Herr Merse bricht auf
Sonnenstrahlen? Durch die Anstrengung? Oder vielleicht für ihn? Der Glanz war flüchtig gewesen, denn kaum hatte er Dagmar angesehen, war er geschwunden. Ihre Augen verdüsterten sich über dem » Glotz mich nicht so an!«, das ihm aus ihrem Mund entgegengeschleudert kam. Er war seither ein Glotzer für sie gewesen. Warum hatte er nie nach dem Grund gefragt? Er betrachtete Frau Luner von der Seite. Sie war schön. Dagmar unscheinbar. Wahrscheinlich hatte sie in ihm damals das Jurymitglied eines Schönheitswettbewerbs gesehen, das gerade auf einem Schildchen die schlechteste Note für sie hochhielt. Und dafür hatte sie ihn zum Glotzer abgestempelt. Mit ihrem Schleudersatz. Einmal Glotzer, immer Glotzer. Hätte er ihr damals gesagt, dass er sich an ihrem Augenglanz erfreut hätte, dann wären sie vielleicht sogar noch zusammen. Wenn sie denn wirklich ihn angeglänzt hatte. Hätte. Wenn. Wäre.
» Ihre Augen glänzen«, sagte er abrupt. » Das sieht sehr schön aus.« (Er traute sich nicht zu sagen: » Sie sehen schön aus!«, aber war zufrieden mit seinem Mut.) » Danke«, sagte Frau Luner. » Das macht das Meer. Oder vielmehr der Wein!«, lachte sie und trank noch einen Schluck. » Nur das?«, fragte er leise. Sie schwieg.
» Sie möchten nicht darüber sprechen?«, griff sie nach einer Weile den Gesprächsfaden wieder auf. » Nach meiner Ansicht ist ein Gespräch das Einzige, was einem in schwierigen Situationen hilft. Sie fragten doch heute Nachmittag, was mir guttut. Mir fiel eine Zeile von Hölderlin ein, weiß nicht, wo es bei ihm steht: »› …dass ein Gespräch wir sind…‹« Herr Merse starrte sie fassungslos an. Hölderlin! Sie auch! Die Linien des Lebens! Am liebsten wäre er aufgesprungen und hätte es Johannes erzählt. » Mir tat es vorhin gut«, fuhr sie ruhig fort, » dass wir hier saßen und ein Gespräch waren.«
Während die Zeilen » … ein Gespräch wir sind…« wie eine Melodie in ihm um- und umgingen, sagte Herr Merse kleinlaut: » Ich kenne so einen Austausch nicht.« Er zögerte und spürte sein Erröten: » Nur innerlich. Ich rede manchmal mit… mit… anderen so im Geiste.« Er stockte. Setzte neu an: » Jedenfalls ist es schön, jetzt hier mit Ihnen zu sitzen und Sie anzusehen.« Frau Luner schwieg. (Hör auf damit. Glotzer.)
» Also, meine Scheidung war vor drei Jahren. Meine Exfrau, Dagmar, hatte sich in einen Dirigenten verliebt. Sie lebt jetzt noch mit ihm. Wahrscheinlich«, fügte er langsamer hinzu und verstummte, denn ihm wurde gerade klar, dass er nichts über Dagmar und ihr jetziges Leben wusste. » Und wann war das mit… mit dem Kind?«, fragte Frau Luner sanft. Sie ließ nicht locker. Herr Merse wollte sagen: » Anfang Januar 2001 , ein paar Jahre vor unserer Trennung«, aber unterdrückte es schnell, denn wie sollte er erklären, dass er es jetzt wusste, damals aber nichts mitbekommen hatte? Was würde das für ein Licht auf ihn werfen! Er überlegte fieberhaft. » Ich habe es erst kürzlich erfahren«, sagte er. » Von einer gemeinsamen Freundin, die ich zufällig traf. Renate. Dagmar hatte sie damals um Hilfe gebeten, sie hatte ihr die Adresse des Abtreibungsarztes besorgt…« Herr Merse wunderte sich, wie diese Sätze aus ihm herauspurzelten. » …Renate hatte aber immer ein schlechtes Gewissen gehabt, und so erzählte sie es mir nun, sie dachte, ich sei inzwischen über die Trennung hinweg.« Uff. Jetzt war er aber in Schwung. » Und nun weiß ich nicht weiter. Soll ich Dagmar damit konfrontieren? Wir haben seit der Scheidung keinen Kontakt. Vielleicht lebt sie gar nicht mehr in Hamburg. Ich habe mich in einen anderen Stadtteil und in meine Arbeit zurückgezogen.« Die Klinik verschwieg er. Ebenso wie das Tagebuch. Warum eigentlich? Sie hatte ihm doch auch so viel erzählt. Trotzdem. Er fühlte sich nach seiner Lüge besser. Männlicher. Er war ein geschiedener, damit lebens- und leiderprobter Mann, er hatte ein Problem, dieses Problem erlebte er so und nicht anders, er hatte es kurz zusammengefasst geschildert, und noch besser: Er saß mit einer wunderbaren Frau im Strandkorb, mit der er das Problem besprach, und wieder noch besser: Sie hatte auch Probleme. Und so konnten, nein, müssten sie ganz einfach zusammenkommen. Er sah sich und Annemarie Luner umschlungen einen Weg entlanggehen, rechts Holunder, verwachsen mit Hartriegel und wilder Schlehe, links das Meer, rechts sie, links er, er fühlte ihre Wärme und musste sich auf die Zunge beißen, um nicht zu
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