Herr Möslein ist tot (German Edition)
den Straßen die Laune zu verderben. Rudi nimmt diese Degradierung gelassen und heitert uns in unregelmäßigen Abständen mit ein paar Witzen auf.
»Was ist Glück?«
»Weiß nicht!«, antworte ich. Gisi ruft: »Kenne ich schon!«
»Dass wir in Erich Honeckers DDR leben dürfen!«, fährt Rudi unbeirrt fort.
»Und was ist Pech?« Rudi wartet mein Schulterzucken gar nicht ab. »Dass wir gerade Glück haben! Hahahahaaaaa!«
»Na, lange hält dieses Glück nicht mehr an!«
»Hey, Tati! So ein Spruch von dir?« Gisi ist gleichzeitig verblüfft und erheitert, versucht sie doch, seit wir uns kennen, mir mehr Lockerheit, weniger Selbstdisziplin und mehr Mut einzureden. Rudi fühlt sich animiert, noch einen Witz nachzulegen: »Was ist der Unterschied zwischen einem Stummfilm und dem realen Sozialismus? Im Stummfilm sieht man alles und hört nichts. Im realen Sozialismus ist es umgekehrt! Hahahahaaaa!« Ich lache mit. Nicht unbedingt wegen des Witzes, sondern wegen Rudi und Gisi, die mir über Jahrzehnte verlässliche Freunde und charakterlich einfach so geblieben sind, wie ich sie von Anfang an mochte. Die beiden waren meine Nachbarn, als ich nach meinem Studium nach Potsdam zog. Wir bewohnten ein altes Mehrfamilienhaus in der Ernst-Thälmann-Straße, Höhe Karl-Marx-Werk. Küche mit Duschkabine, aber ohne Heizung, Klo halbe Treppe. Bei ihrem ersten Besuch brachten sie mich gleich auf Linie. Rudi trat gegen die Duschkabine: »Die muss raus. So’n altes Ding. Schreib ’ne Eingabe an die KWV und wegen eines Außenwandgasheizers gleich an den Rat des Bezirkes.« Die Einstellung, Gegebenes nicht als Unabänderliches zu betrachten, irritierte mich anfangs und ließ mich ängstlich werden, weil ich als Lehrerkind zu Disziplin, Ordnung und Harmonie erzogen worden war. In den Folgejahren brachte ich es unter Anleitung meiner Freunde zuerst zu einem Außenwandgasheizer und später zu einer neuen und größeren Wohnung. Witze-Erzähler Rudi, der nach dem Studium in der Kulturabteilung beim Rat des Bezirkes arbeitete, hat mir sogar zu meinem größten Glück verholfen. Er wies mir den Weg zur Profi-Tänzerin, schubste mich über die zu nehmenden Hürden, und ich tat das Beste, was ich bis dahin je getan hatte: Ich entschied mich für MEINEN Traum und ging ab 1987 als freiberufliche Tänzerin in die Selbständigkeit.
Ich lasse mich noch tiefer in den Rücksitz sinken und staune, dass Pauli und ihr Freund Max neben mir so friedlich und still mit ihren magischen Tafeln spielen. Vielleicht sollte ich dieses altmodische Spielzeug mal meinen Nachbarkindern in Potsdam-West schenken, damit sie nicht mehr so viel Lärm machen. Ganz im Gegensatz zu meinen durch Kinderlärm gestressten Nerven, kann Gisis rasante Fahrweise auf durchgängig unebenen Fahrbahnen meiner jugendlich intakten Wirbelsäule nichts anhaben.
Rudi animiert die Berg- und Talfahrt, einen weiteren Witz zum Besten zu geben: »Was bedeuten die Verkehrsschilder 80, 60, 30? – Auf einen Kilometer 80 Schlaglöcher, 60 cm breit, 30 cm tief.« Trotz maroder Straßen kommen wir bereits um elf in Forst an. Mangels GPS fragen wir uns durch und werden von Passanten schnell und auf direktem Weg, Richtung Oder-Neiße-Friedensgrenze, vorbei an den riesigen Tuchfabrik-Backsteinbauten, die später alle verfallen und mit leeren Fensteraugen das Stadtbild verschandeln werden, zum Restaurant Schwarze Rose dirigiert.
Carsten hatte in diesem Edelrestaurant mit der Preisstufe »S« seine Ausbildung zum Restaurantfachmann absolviert, die in einem Studium der Ökonomie, heute auch Betriebswirtschaft genannt, gipfeln sollte, welches ihm wegen Schwiemus Flucht in den Westen allerdings versagt blieb. Über seine Zeit in der Schwarzen Rose hat mir Carsten so viel erzählt wie über keinen anderen seiner Lebensabschnitte. Ich weiß über die Gepflogenheiten zweier verschiedener Gästebücher, den Unmut der Kellner über mit Trinkgeld geizende Gäste und die Platzierung derselben nach visueller Einschätzung durch den Oberkellner bestens Bescheid.
Unser fröhlicher Familienausflug endet nach Betreten des bis zur zweiten Etage in dunklem Grau gestrichenen Altbaus im Eingangsbereich vor dem Schild: Sie werden platziert! Gisi und Rudi bleiben vor dem Schild stehen und versinken in der Betrachtung des für DDR -Verhältnisse sehr nobel designten Vorflurs mit braunen Lichtschaltern, von denen es in meinem ehemaligen Großhandelsbetrieb jährlich nur fünf Stück zu verteilen gab. Ich verharre in
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