Herr Möslein ist tot (German Edition)
offenem Mund, als hätte ihn das eiskalte Händchen an der Schulter gepackt, furchtbar erschrocken an. Ich wende mich, den Tränen nah, schnell ab und schließe die Tür hinter mir. Sehr sanft und melancholisch.
»Bist du komplett übergeschnappt? Du willst doch nicht etwa hier auftreten? Was würde deine Mutti dazu sagen?«, äußert Betty ihr Unverständnis über mein Verhalten.
»Nein, mir tut nur der Herr Möslein so leid!«
»Warum das denn? Der ist doch bis jetzt auch ohne uns ausgekommen!«
»Weil er sterben wird!«, platze ich heraus.
»Woher willst du das wissen?«
Ich bin völlig aufgelöst und in Erklärungsnot. Darum zucke ich nur traurig mit den Schultern. Betty hängt sich bei mir ein und fragt mitfühlend: »Wann stirbt er denn?«
»In 14 Jahren!«, schniefe ich.
Carsten und ich fanden bei unserem Besuch der Großen Freiheit 2009 eine verwaiste Ramona-Bar vor, die Fenster und Türen mit Holz verrammelt. Ich fragte einen älteren, einsam vor einem schlecht beleuchteten Schaufenster stehenden Einlasser, der so aussah, als habe er schon viele Jahre in dieser Straße verbracht, neugierig: »Entschuldigen Sie bitte, ist die Ramona-Bar geschlossen?«
»Och, die ist schon lange zu. Zehn Jahre bestimmt!«, erwiderte er freundlich.
»Und was ist aus ihrem Besitzer geworden? Dem Herrn Möslein?«
»Junge Frau, der ist schon mindestens sechs Jahre tot!«, rief er fast belustigt. Aber mich erschreckte diese Information. Wahrscheinlich, weil ich selbst schon in einem Alter war, in dem man anfängt, wieder Mittagsruhe (später zur Abmilderung Powernapping genannt) zu halten; bevor man seine Beine übereinanderschlägt, Dehnungsübungen zu machen, und die e rsten Freunde über hohe Cholesterinwerte, Schlaganfälle und Bluthochdruck klagen. Da wird jedem bewusst, dass das Leben endlich ist. Natürlich fehlt Betty in ihrem jugendlichen Alter jedes Verständnis für meine in ihren Augen völlig übertriebene Trauer. Ich spüre gerade dieses körperliche Betty-Zucken, das auf einen anrollenden Lachanfall hinweist.
»Tati, ich bitte dich!«, versucht sie ernst zu bleiben. »In 14 Jahren … das wäre doch normal in seinem Alter. Wir sterben alle mal!«
»So alt war er gar nicht!«, erwidere ich hilflos.
»Tati, jetzt werde mal wieder normal. In 14 Jahren ist Möslein schätzungsweise weit über 60.«
»Na aber, das ist doch kein Alter!« Ich bin empört über Bettys jugendliche Unbeschwertheit und Ignoranz.
»Noch lebt er ja. Und jetzt sei wieder lustig. Wir sind in Hamburg und haben Spaß!«, sagt Betty und piekst mich in die Seite, bis ich lachen muss. Auf der Heimfahrt befällt mich sogar eine gewisse Heiterkeit. Ich singe den zukünftigen Hit der Randfichten und hebe dabei die Arme im Rhythmus des Gesangs Richtung Trabi-Himmel.
»Jaaa, er lebt noch, er lebt noch, er lebt noch!« Betty stimmt ein. »Jaaa er lebt noch, er lebt noch, stirbt nicht!«
Da Da Da
Als ich übermüdet von der langen Heimfahrt gegen halb drei die heimische Küche betrete, sitzt Heinz am Tisch vor dem ultimativen »Blauen Würger«, den er – warum auch immer – aus einem hölzernen ungarischen Eierbecher trinkt, der sonst mit seinen fünf Brüdern an einer Holzleiste unsere Küchenwand verziert.
»Wieso bist du denn noch wach?« Ich habe sofort ein schlechtes Gewissen. Immerhin komme ich von einer Westreise nach Hause und muss befürchten, dass Heinzis Freundin Geli wieder eine Akte angelegt hat.
»Ich wollte mit dir anstoßßßen!«, lallt Heinzi. »Guck ma, was hier isss!« Er wedelt mit einem Briefkuvert. Ich greife danach. Heinzi zieht es zurück. »Haha, bisste neugierisch, wa?«
»Heinz, hör auf, ich bin müde und kaputt von der Reise. Gib her!« Heinz Arm schwankt mit dem gesamten Oberkörper, als er mir das Kuvert reichen will. »Oki doki. Hier haste.«
Ich setze mich ermattet an den Küchentisch, werde beim Anblick des Briefes sofort hellwach. Der Brief ist an mich adressiert und bereits geöffnet.
»Heinzi, jetzt reicht’s aber. Wie kommst du dazu, meinen Brief zu öffnen, spinnst du?«
»Liessss!« Heinz fuchtelt mit einer Hand über dem Tisch.
»Warum spionierst du mir hinterher? Kümmer dich um deine Geli und endlich um eine eigene Wohnung!«
»Los, liesss!«, lallt Heinzi beglückt.
Mit Schwung ziehe ich zwei Briefbögen aus dem Kuvert. Ich entfalte die erste Seite und erkenne die Handschrift meines Vaters: »Liebe Tati! Die Benachrichtigung über die Abholung meines neuen Trabis ist angekommen. Wie
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