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Herr Möslein ist tot (German Edition)

Herr Möslein ist tot (German Edition)

Titel: Herr Möslein ist tot (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tatjana Meissner
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28. Oktober seit 81 Jahren in die Geschichte eingehen. Betty und ich haben nichts von dem strahlenden Sonnenschein, denn wir proben im dunklen Babelsberger-Bahnhof wie die Verrückten an unserer Show für die Einstufung in wenigen Tagen. Wir werden der Prüfungskommission in der »Kleinen Revue« des Friedrichstadtpalastes sechs verschiedene Tänze in ebenso vielen Kostümen präsentieren. Vom Sinatra-Song über Michael Jacksons »Smooth Criminal«, die »Spinne« von The Cure, einen topaktuellen Mambo bis zu einer frivolen Version eines Musical-Songs aus »Victor und Victoria« in pinkfarbenen Bodys und gestrapsten roten Strümpfen, inklusive schneller Umzüge und einem Friseur hinter dem Paravant auf der Bühne, der uns, während wir ins nächste Kostüm schlüpfen, die Haare stylen wird. Ich stampfe und hüpfe, hebe die Beine, verrenke mich und frohlocke, weil ich weiß, dass wir die erste Tanzformation mit einer zwanzigminütigen Show in der Geschichte der ostdeutschen Tanz-Einstufungen sein werden. Die Prüfungskommission wird uns mit Lob überhäufen, und wir werden in Tränen der Freude und Rührung ausbrechen.
    »So, Betty«, schniefe ich außer Puste im abschließenden Spagat hockend. »Jetzt ist genug! Lass uns Feierabend machen, ja?«
    »Meinst du, das reicht?«
    »Ganz sicher reicht das. Betty, wir haben jetzt fast 14 Tage jeden Tag trainiert, haben fünf verschiedene Kostüme mit Pailletten und Strasssteinen benäht, stundenlang im Studio gestanden, um Musik und Geräusche einzuspielen! Wir waren so fleißig, wir werden die Besten des Abends sein! Wirste sehen!«
    »Ach komm, Tati! Noch einmal durchmachen!«
    »Nö, ich kann nicht mehr. Ich will zu Gisi, die mir Neuigkeiten von Carsten mitteilen will, und im Kunstgewerbeladen eine Klorollen-Häkelmütze kaufen, bevor die Läden schließen.«
    »Bist du jetzt total übergeschnappt?« Weil Betty schon ihre Requisiten zusammensucht, beginne ich, mich meiner Trainingssachen zu entledigen.
    »Ich kaufe die Häkelmütze für Heinz!«
    »Warum schenkst du dem noch was?«
    »Weil er in zwei Tagen seinen neuen Trabi abholen kann!«
    »Und welchen Grund gibt es für deine gerade ausbrechende Liebenswürdigkeit?«, will Betty von mir wissen. Wir greifen unsere Taschen und Kostüme und verlassen den grauen, staubigen Saal. »Weil alles bestens läuft. Heinzi holt übermorgen Pauli aus Erfurt ab, zieht in wenigen Tagen in seine eigene Wohnung und ist mir so dankbar, dass wir wohl die nächsten Jahre trotz Scheidung gut miteinander klarkommen werden. Und ich kann endlich in aller Ruhe nach Carsten suchen, wenn wir am 4. November wieder in Westberlin sind!«
    »Deine Besessenheit, einen Mann zu treffen, der dich nicht kennt, ist mir schleierhaft. Aber ich suche mit, wenn du willst. Irgendwie neugierig bin ich ja schon!«
    Ich gebe Betty die Hand, obwohl ich sie aus Dankbarkeit für ihre Neugier lieber zum Abschied geküsst hätte. »Bis übermorgen, Betty. Ich freu mich auf die Kleine Revue und unsere Performance!«
    »Was auch immer das sein soll! Aber ich freu mich auch«, verabschiedet sich Betty. »Mach’s gut!«
    ***
    Mit dem Häkelmützchen im Gepäck komme ich bei strahlendem Sonnenschein auf Gisis und Rudis Haus-Baustelle an. Rudi hat einen Graben rund um den viereckigen Kasten gebuddelt, der mal ein Haus werden will, und bestreicht gerade das Fundament mit heißem Teer.
    »Meine Künstlerin!«, ruft er mir entgegen. Sein Gesicht verzieht sich zu einem breiten Grinsen und wirkt eher schmerzverzerrt, weil zwei große Flächen vergrindeter Haut nicht mitlächeln können.
    »Was ist dir denn passiert?«
    »Ein wenig mit Teer verbrannt. Hat gespritzt. Aber heute geht’s schon wieder!«, erwidert er fröhlich. Kopfschüttelnd gehe ich in die mit Baumaterial vollgestellte Küche und begrüße Gisi, die schon einen Kaffee für uns aufbrüht. »Hallo Tati, ich habe Neuigkeiten für dich. Aus Westberlin!«
    Auf Zementsäcken in der Oktobersonne sitzend schlürfen wir unseren Kaffee, und Gisi berichtet, dass ihr Cousin zu Besuch war und ihr erzählte, dass er seinen Sohn zum Wittenbergplatz geschickt und der dort alle ansässigen Lokale notiert hat. »Dort gibt es also ein Lokal, das heißt Knast, eins mit dem Namen Oldtimer und eins Goldener Apfel.«
    Gisi blinzelt mich an, und ich erwidere glücklich: »Das ist ja toll. Sag ihm lieben Dank! Im Oldtimer war ich schon, da arbeitet Carsten nicht. Also bleiben noch der Knast und der Goldene Apfel. Toll!« Ich freue mich

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