Herr Möslein ist tot (German Edition)
Rudis Äußerung. «Naja«, sagt sie nachdenklich, »mit viel Fantasie kann ich mir vorstellen, dass es irgendwann Handtelefone gibt. Aber nicht hier. Du glaubst doch wohl nicht, dass der Krenz als neues Staatsoberhaupt irgendetwas am sozialistischen Gang der Dinge ändern wird.«
Rudi gibt Gisi einen Kuss auf die Stirn und guckt neugierig zu mir. »Aber, dass sich was ändert, zeigt der Sturz von Honecker doch … irgendwie. Oder, Tati?«
Pfff. Was sage ich jetzt bloß. Ich bin hin und her gerissen. Auf der einen Seite will ich so gern mal mit jemandem über meine Erfahrungen reden, auf der anderen Seite halten mich meine Freunde jetzt schon für komplett durchgeknallt. Gisi und Rudi schauen mich erwartungsvoll an. Ich nehme mir ein Herz und sage unwillkürlich flüsternd: »Also gut. Ich sage euch, was ich denke. Ihr müsst mir aber versprechen, es wirklich niemandem weiterzusagen. Ja?«
»Versprochen. Pionierehrenwort!«, sagen beide gleichzeitig und heben die rechte Hand zum Pioniergruß auf den Kopf. »Ihr sollt mich nicht verscheißern!«, sage ich beleidigt.
»Wir verscheißern dich nicht, wir glauben dir bloß genauso wenig wie den Genossen von der SED «, scherzt Rudi.
»Okay, dann lass ich’s!« Ich stelle meine Kaffetasse mit Nachdruck auf den zertrampelten Rasen.
»Nee, sag doch mal! Wir versprechen dir auch, nichts weiterzusagen. Egal ob wir dir glauben oder nicht!«
»Na gut. Ich denke: In 11 Tagen wird die Mauer fallen, und in einem knappen Jahr wird die gesamte DDR zur BRD gehören.« Jetzt sagt keiner mehr etwas. Sogar die Vögel halten den Schnabel. Nach gefühlten drei Stunden Schreckstarre im sonnenüberfluteten Garten sagt Rudi: »Ein Witz, ein Witz: Stasi-Beamter auf der Straße: Wie beurteilen Sie die politische Lage?
Passant: Ich denke …
Stasi-Beamter: Das genügt – Sie sind verhaftet!«
Gisi kann nicht lachen. Sie räuspert sich und sagt nachdenklich: »Wenn das passieren sollte, dann wäre das wirklich ein Knaller.« Gisi überlegt. Gisi überlegt immer und versucht aus jeder Situation das Beste rauszuholen. Angstfrei und wagemutig.
»Wenn wir uns jetzt aber mal vorstellen, dass die DDR in Zukunft zur BRD gehört, wie kommen wir dann an das Westgeld?«, kommt Gisi zum für DDR -Bürger wichtigsten Punkt.
»Es wird eine Währungsunion geben. Die DDR -Mark werden in D-Mark getauscht.«
»Boah. So ein Mist. Wir haben gar kein Geld. Steckt alles im Haus«, ärgert sich Rudi.
»Ja, das geht den meisten DDR -Bürgern so«, erwidere ich und denke an mein scheidungsgeplündertes Konto.
Gisi steht auf. »Tati, es tut mir leid. Ich glaube nur, was ich sehen und anfassen kann. Märchen sind nichts für mich.«
»Na aber … Gisi«, mischt sich Rudi ein. »Stell dir einfach mal vor, Tati hätte recht mit ihren Visionen. Dann würde ich jetzt eine Baupause einlegen und warten, bis wir in westlichen Baumärkten anständige Materialien kaufen können! Das wäre toll!« Rudi streckt sich auf seinem Zementsack aus und räkelt sich in der Sonne.
»Nüscht is! Wir arbeiten weiter. Hopp, hopp Rudi! Ran an den Teer!«, begräbt Gisi die Hoffnungen ihres Mannes auf einen ruhigen Abend. Rudi trottet an seinen Arbeitsplatz.
Ich trinke den letzten Schluck lauwarmen Kaffee, verabschiede mich von meinen Freunden und fahre nachdenklich Richtung Ernst-Thälmann-Straße. Wie oft in meinem Leben haben mir Begegnungen mit Menschen nicht nur Denkanstöße gegeben, sondern direkt geholfen: Rudi, der mir den Weg in die Profitänzerkarriere ebnete, Frank, der mein Moderationstalent beim Potsdamer Stadtfernsehsender P-Plus entdeckte, oder Rolf, der mich auf die Kabarettbühne stellte.
Wer weiß, was aus mir geworden wäre, wenn ich wegen Heinzi nicht nach Potsdam gezogen wäre? In der Obhut meiner Eltern würde ich mich sicherheitsorientiert an meinen Großhandelsschreibtisch klammern, würde Kostüme mit weißen Blusen und farblich abgestimmte Pumps tragen und sicher sehr gut kochen können. So wie Carsten. Wenn ich ihn in den nächsten Tagen finde, brauche ich nie mehr zu kochen. Eine fantastische Vorstellung. Wir werden Gisi und Rudi, aus Dankbarkeit für ihre Hilfe, zum Vier-Gänge-Menü einladen. Ich freue mich schon darauf und schiebe die Frage, wie sich mein Leben verändern könnte, wenn Ingo und später Flo als LABV s wegfallen, weit von mir. Was ich nicht haben und nicht kennen werde, wird mir auch nicht fehlen. So, wie mir als junge Erwachsene weder Handy noch Computer gefehlt haben. Ich will
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