Herr Möslein ist tot (German Edition)
Carsten, alles andere ist unvorstellbar.
Ein himmelblauer Trabant fuhr in ein Land
Von Heinzis Kontrolle befreit, scheint mein Leben in der Vergangenheit plötzlich rund zu laufen. Heinzi hat binnen kürzester Zeit seinen alten Fiat verkauft (das Warten auf das Erscheinen der Annonce hat länger gedauert als das Finden eines seine gesamten Ersparnisse opfernden Käufers), ist nach Erfurt gefahren, hat mit meinem Vater den Trabi abgeholt, gleich umgemeldet und Pauli zurück nach Potsdam gebracht. Im Moment renoviert er seine neu zugewiesene Wohnung, wenn er nicht arbeiten oder sich um unser Kind kümmern muss. Bettys und meine Tanzeinstufung in der Kleinen Revue des Friedrichstadtpalastes lief planmäßig. Nur, dass ich bei der Verkündung nicht noch einmal vor Freude weinen konnte und mir der Satz: »Das ist ja ein super Feedback!« rausrutschte, was zu Stirnrunzeln und hochgezogenen Augenbrauen bei der Prüfungskommission und bei Betty führte.
Gerade bin ich mit meiner Kollegin nach Westberlin aufgebrochen. Ich sitze völlig entspannt neben ihr im himmelblauen Trabant und freue mich auf meine Schwester, Tante Ev, den Auftritt und vor allem auf das Treffen mit Carsten. Es ist noch sehr früh am Morgen, als wir über das Kopfsteinpflaster Teltows hoppeln. Der Himmel ist diesig verhangen, die Straße aber trocken. Obwohl der November bereits begonnen hat, ist es nicht so kalt, dass ich meine Winterjacke vom Boden hätte holen müssen. Betty summt fröhlich vor sich hin, und in mir kribbelt es so stark, wie zuletzt in dem Augenblick, als ich Carsten zum allerersten Mal sah: am 23. Januar 2006 in der Bleibtreutraße in Berlin. Ich bin mir sicher, dass das heutige Blind Date genauso gut funktionieren wird. Obwohl »blind« in meinem derzeit jungen Alter der falsche Begriff ist. Schlecht sehen kann ich erst mit vierzig gut, denke ich, und nehme mir vor, Carsten unbebrillt tief in die Augen zu schauen und ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Durch dieses geschickte Vorgehen meinerseits wird er sich spontan in mich verlieben, meine Mission wäre erfüllt und schwupps … wäre ich wieder im 21. Jahrhundert und steckte mitten in den Vorbereitungen zu Carstens und meiner Silberhochzeit. Ich bin auf das Treffen mit meinem Traummann perfekt vorbereitet: Pauli übernachtet heute bei Gisi und Rudi, morgen früh wird sich Heinz um sie kümmern, falls mein junges Ich etwas länger schlafen will.
Meine Sehnsucht nach Carsten hat sich in den letzten Tagen ins Unermessliche gesteigert. Es ist so, als wenn man ans Essen denkt und einem sofort das Wasser im Mund zusammenläuft. Ich stelle mir vor, wie er mit mir redet und lacht, und denke sofort an seine leckeren Eierkuchen an Orangenspalten oder Hühnerspießchen auf Glasnudelsalat. Ich freue mich darauf, dass er mir nach seinem morgendlichen Lauftraining die Zeitungen aus dem Briefkasten mitbringen und leise vor die Tür stellen wird, um mich nicht zu wecken, und dass er mich tröstet, wenn ich bei meiner Rückkehr in die Zukunft wieder mit meinem schlaffen Bindegewebe und Altersweitsichtigkeit konfrontiert werde.
Meinen derzeit jungen straffen Körper habe ich heute so geschmückt, wie es Carsten garantiert gefällt. Ich weiß ja, dass er auf Frauen steht, die sportlich schick gekleidet sind. Er mag den »Boyfriend-Style« des 21. Jahrhunderts. Darum habe ich meine Röhrenjeans, die ich während der Schwangerschaft mit Pauli mit eingenähten Keilen versehen hatte, wieder zurückgenäht. Sie sind nicht stonewashed, sondern dunkelblau und unterstreichen meine schlanken Beine. Dazu trage ich ein rotes T-Shirt oder Nicki und das Jackett meines Opas. Es ist kragenlos, aus robustem, beigefarbenem Faden gewebt, hat braune Knöpfe, riesige Schulterpolster und hängt lässig an mir herab. In die großen Jackett-Taschen habe ich die Schlagersüßtafel für Carsten gesteckt. Weil mein Traummann auf kurze, blonde, aus dem Gesicht nach hinten gegelte Frisuren steht, habe ich mein dunkelbraunes Haar gestern mit Londa-Blondiercreme blond gefärbt. Ich habe es zumindest versucht. Als ich das Haarfärbemittel abspülte, kam Pauli ins Bad, kicherte und rief: »Mami, du siehst ja aus wie Clown Ferdinand!« Was natürlich Quatsch ist. Meine Haare sind zwar leider nicht richtig blond, aber ich habe sie – im Gegensatz zu Clown Ferdinand – nicht im Mittelscheitel frisiert und auch nicht links und rechts wie zwei Zwiebeltürme auftoupiert. Stattdessen habe ich mit Wasser und Action-Haarspray eine
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