Herr Tourette und ich
Anderes, etwas Besseres – es ist doch besser, mit dem Maul voller Milch zu sterben als an akuter Aquariumklaustrophobie.
Dabei sein
(1979) Müdigkeit geht mit Ticsigkeit einher. Das gilt genauso für Stress, guten wie schlechten. Am schwierigsten ist es nach dem Mittagessen, nach Salamigestank und Mohrrübenmassakern. Aus irgendeinem Grund haben wir immer die wichtigen Fächer am Nachmittag. Ich lerne nicht viel, fluche immer mehr vor mich hin, merke, dass ich wohl nicht richtig dabei bin.
Dabei sein heißt, mit dabei zu sein, wenn die anderen rumhängen. Dabei sein heißt, dabei zu sein, wenn die anderen gut drauf sind. Gut drauf zu sein heißt, in der Situation drin zu sein, sie zu kommentieren, von ihr angezogen zu werden. Dabei zu sein heißt, sich in einer unausgesprochenen gemeinsamen Stimmung zu befinden. Dabei sein ist ein kollektives Gefühl von Impulsivität, eine anerkannte Impulsivität, die alle schätzen, eine weniger gefährliche Impulsivität, in der alle sich wiedererkennen. Dabei sein dürfen nur die, die ausreichend gut drauf sind. Also ist man dabei, wenn man nur ausreichend oft in der Gruppe unterwegs ist. Die meisten, die dabei sind, lehnen sich an irgendetwas an – eine Wand, eine Tür, ein Moped. Aber vor allem lehnt man sich aneinander an. Dabei zu sein heißt, sich an andere anzulehnen, die sich ihrerseits wieder an andere anlehnen. Die Kette ist ziemlich lang. Niemand weiß richtig, wo sie anfängt oder wo sie endet. Also muss man sich anpassen können, um dabei zu sein, um die Möglichkeit zu haben, sich an jemanden anzulehnen.
Ich beginne also zu merken, dass ich nicht ausreichend dabei bin. Ich versuche, mit den anderen herumzuhängen, aber sowohl das Herumhängen wie auch das Reden bereiten mir große Probleme. Ich versuche, mich an die Vitrine mit den ausgestopften nordischen Raubtieren anzulehnen, aber ich kriege körperliche Krämpfe, weil ich mich mehr darauf konzentriere, herumzuhängen, als darauf, locker herumzuhängen. Ich versuche auch, bei den Gesprächen dabei zu sein, aber dann kriege ich seelische Krämpfe, denn es ist gerade angesagt, so wenig wie möglich zu sagen. Man soll nicht nur rumhängen, man muss total entspannt herumhängen und so lange wie möglich so wenig wie möglich sagen. Der Blick soll verraten, wer du bist, der Blick und die Art und Weise, in der du herumhängst. Die Worte kommen erst an dritter Stelle. Weil ich ein Schnellredner bin und nicht richtig kontrollieren kann, wann und wo die Worte kommen, führt das oft zu zuckendem Bauch und gestresster Zunge. Aufgezwungenes Schweigen, entspanntes Rumhängen und coole Blicke veranlassen mich dazu, die falschen Worte zur falschen Zeit zu sagen, das erzeugt Lärm, wenn Stille angesagt ist, und das führt dazu, dass ich ganz und gar nicht auf die Weise rumhänge, wie die Chefrumhänger wollen, dass man es tut.
Ich werde ein Ersatzrumhänger. Ich lehne mich an alle möglichen Gegenstände, versuche die Klappe zu halten und tue so, als würde mich nichts berühren. Aber das gelingt mir nicht wirklich, ich schaffe es nur selten, auf diese abwesende Weise anwesend zu sein. Oskar kuckt einfach nur leer in die Luft, Jesper und Ole ebenso. Lena kaut Kaugummi, obwohl sie keins mehr hat, niemand sagt etwas, sie existieren einfach. Ich versuche auch, einfach nur zu existieren, aber ich habe keine Chance, meine Position oder meinen Mund auch nur drei Minuten lang zu halten. Ich plappere von Mercedes und Chrysler, Gretzky und Salming, Boeing und Airbus, Fräulein Gemeinschaft und Johan Gestapo. Doch sie reagieren nicht, ziehen nur die Augenbrauen hoch, als wüssten alle in der Klasse plötzlich, was einen Nazi-Mercedes von einem Cowboy-Chrysler, einen Rolls-Royce-Motor von einer Airbustragfläche unterscheidet. Aber ich werde nicht meckern. Immerhin lassen sie mich trotzdem da stehen und rumhängen. Die meisten kriegen nicht einmal die Chance, in die Nähe der Vitrine mit den ausgestopften nordischen Raubtieren drin zu kommen. Hier geht es um Codes, und obwohl ich immer den Code vergesse, darf ich trotzdem dabei sein. Sie sagen nichts, aber sie verweigern mir auch nicht den Platz in der Gruppe. Ich bin mitten in der Gruppe, ohne eigentlich ein Teil davon zu sein. Sie schauen mich ein wenig verwundert an, abschätzig, als wären sie ängstlich, etwas unsicher. Was zum Teufel wird er sich jetzt ausdenken? Ich habe einfach nicht genügend Ruhe im Körper, um in der Situation zu verbleiben. Die Impulse strömen
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