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Herrengedeck

Herrengedeck

Titel: Herrengedeck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Tamm
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Jahre seit der letzten Trennung vergangen. Aber prinzipiell hat sich nichts geändert, finde ich. Habe darum Melina vorhin angerufen und sie war sofort mit einem Treffen einverstanden. Sie schlug mir vor, heute Abend bei ihr vorbeizukommen.

     
    19:35 Uhr: Melina empfängt mich an der Haustür und ich bin schon im ersten Moment überwältigt. Sie müsste jetzt auch siebenunddreißig Jahre alt sein, sieht aber noch genauso aus wie früher, zumindest wenn man sie mal kurz überbügeln, stärken und die dunklen Ringe unter ihren Augen wegretuschieren würde.
    »Stefan!«, begrüßt sie mich überschwänglich. »Du bist doch Stefan, oder? Wow, du hast dich ja gar nicht verändert, obwohl ich mir nicht sicher bin, ob ich dich auf der Straße erkannt hätte. Du bist irgendwie … mehr geworden.«
    »Und mehr ist besser als gut, oder?«, kontere ich gut gelaunt.
    Sie sieht mich an, lacht und presst dann die Lippen zusammen, wie sie das früher auch schon immer gemacht hat. Und dann passiert’s, ich steige in Gedanken in eine Zeitmaschine und reise in die Zeit vor über zwanzig Jahren. Ich, Stefan Trautmann, genannt Trauti, bin fünfzehn Jahre alt und stehe hinten auf dem Schulhof in der Mofa-Ecke. Ich lehne mich an die Mauer, rauche eine Camel und versuche so gefährlich, verrucht und wild auszusehen wie ein Juniormitglied der Hells Angels. Plötzlich höre ich Schritte hinter mir, und ich weiß sofort, was mir bevorsteht.
    »Hey, Trauti. Gib mir mal’ne Kippe. Ne, ist gut, ich behalt gleich die ganze Packung.«
    Jörg Gerber. Er hat an unserer Schule dieselbe Rolle gespielt wie Der Schrecken aus dem Amazonas in dem Fünzigerjahre-Horrorstreifen. Man weiß nie, wo und wann er auftaucht, aber wenn es passiert, ist hinterher jemand tot. »Mann, Gerber, lass mich in Ruhe. Und gib mir meine Zigaretten wieder.«

    »Erstens bin ich für dich immer noch Herr Gerber, zweitens sind das meine Kippen, und drittens sieh dir mal meine Schuhe an. Höchste Zeit, dass sie mal wieder geputzt werden.«
    »Vergiss es, Vollidiot.«
    »Wie bitte?«
    Dieses Wie bitte? habe ich noch gut im Ohr, weil es immer direkt danach etwas auf die Ohren gab. Gerber brauchte an jenem Tag keine drei Minuten, um mich weichzuklopfen. Ich will mich darum gerade vor ihn knien, um seine Stiefel auf Hochglanz zu polieren, als ich den Sound eines mir wohlbekannten Mofas höre. Melina. Sie hält mit quietschenden Bremsen ein paar Meter entfernt, und ich weiß, dass sich in dieser Sekunde entscheiden wird, ob ich für den Rest meiner Schulzeit Sklave oder Herr sein werde.
    Zum Glück habe ich sämtliche Folgen von Kung Fu mit David Carradine gesehen und mir einzelne Kampftechniken angeeignet. Statt Gerbers Schuhwerk zu pflegen, packe ich darum seinen Unterschenkel und setze den Shaolin-Kniehebel an. Gerber schreit auf, ich springe auf die Füße, schubse ihn gegen die parkenden Mofas und sage: »Wenn du noch einmal eine Zigarette von mir haben möchtest, Gerber, dann sagst du gefälligst Bitte . Haben wir uns verstanden?«
    Ich drehe mich um, nehme Melina in den Arm und gebe ihr einen der besten Zungenküsse meines Lebens.
    Was danach passierte, weiß ich nicht mehr so genau, weil ich zwei Wochen mit Gehirnerschütterung und Gedächtnisausfall im Krankenhaus lag. Als ich wieder zur Schule gehen konnte, war Gerber bereits irgendwo in Südeuropa untergetaucht, um dem Jugendknast zu entgehen. Ich habe das restliche Schuljahr dennoch mit dem Gefühl verbracht, als
würde ich auf einem Expeditionsschiff auf dem Amazonas leben.
    Und jetzt, zweiundzwanzig Jahre später, sehe ich Melina an und könnte auf der Stelle dort weitermachen, wo wir damals aufgehört haben - bei unserem Kuss.
    Melina bemerkt meinen Blick, lächelt irritiert und sagt: »Warum kommst du nicht rein, Trauti? Wir setzen uns in die Küche und ich mache uns einen Kaffee.«
    »Gerne. Ich freue mich echt total, dass wir uns nach so langer Zeit endlich mal wiedersehen.«
    Wir setzen uns an ihren Ikea-Küchentisch und während die Kaffeemaschine vor sich hin röchelt, versuche ich bei ihr dieselben alten Gefühle zu wecken, die ich empfinde. »Erinnerst du dich noch an unseren Lieblingsplatz, Melina?«
    »Du meinst hinten auf dem Schulhof, wo Jörg dir auf die Fresse gehauen hat?«
    »Nein, ich meine die alte Ruine, wo wir uns unser Nest eingerichtet haben.«
    Sie sieht mich kopfschüttelnd an. »Welche alte Ruine, Stefan? Muss ich total vergessen haben.«
    Ich sehe sie überrascht an. Kann ein Mädchen so

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