Herrengedeck
etwas wirklich aus ihrem Gedächtnis streichen? Dabei dachte ich immer, das erste Mal - und sie hat behauptet, dass es das für sie gewesen wäre - sei auf ewig in ihre Festplatte gebrannt. Von wegen, the first cut is the deepest .
Aber was soll’s, ich bin nicht hier, um kleinlich zu sein. Ich rücke meinen Küchenstuhl ein wenig näher an sie heran, sehe ihr tief in die Augen (doch!) und sage: »Ich finde, wir sollten die letzten zwanzig Jahre einfach als eine Art Pause betrachten und da weitermachen, wo wir damals aufgehört haben.«
»Ach, Trauti«, sagt Melina seufzend.
»Heißt das, du bist einverstanden?« Ohne ihre Antwort abzuwarten, schließe ich die Augen, beuge mich nach vorne und will ihr einen Kuss auf die Lippen drücken. Melina lacht, stößt mich sanft zurück und sagt: »Eeeh … Stefan, sag mal … hast du eigentlich was an den Augen, oder so? Guck dich doch mal um.«
Ich öffne die Augen und komme ihrer Aufforderung nach. Und dann passiert etwas ziemlich Seltsames. Ungefähr so wie bei CSI - Den Tätern auf der Spur , wenn die Kamera eine Schussfahrt in die Nasenhöhle einer Leiche macht, nur umgekehrt. Die Kamera macht eine Schussfahrt zurück, und das Panorama, das ich sehe, wird immer größer. Angefangen von Melinas verführerischen Lippen sehe ich auf einmal ihr ganzes Gesicht, ihren Körper, den Tisch, an dem wir sitzen, die Essecke - und schließlich die ganze Küche. Und dann stelle ich fest, dass wir gar nicht alleine sind. Mit uns in der Küche ist ein ungefähr ein Jahr alter Säugling, der auf dem Boden herumkriecht und vor sich hin brabbelt. Im Nebenraum, zu dem die Tür offen steht, sitzt Melinas Ehemann vor dem Fernseher, und oben im ersten Stock höre ich ihre beiden älteren Kinder, die an der Playstation spielen. Außerdem läuft im Keller eine Waschmaschine mit Babysachen, während nebenan im Bügelraum Tonnen von anderer Kleidung sind, um die sich Melina kümmern muss, jetzt mal abgesehen von dem ganzen dreckigen Geschirr im Waschbecken. Weil sie zufällig eine verheiratete, dreifache Mutter ist, die außerdem wieder schwanger ist und auch sonst nicht weiß, wo ihr der Kopf steht.
Ich sehe Melina betroffen an. Sie zuckt mit den Schultern
und sagt: »Ich nehme es wirklich als Kompliment, dass du dich für mich interessierst.«
In diesem Augenblick wird die Küchentür aufgerissen und Melinas tätowierter Ehemann kommt herein. Ohne mich anzusehen, geht er an den Kühlschrank, holt sich eine Dose Bier heraus und fragt Melina: »Habe ich dir erlaubt, Besuch zu empfangen? Wer ist das überhaupt?«
»Kennst du nicht, Schatz. Und jetzt geh bloß wieder rüber.«
»Wie bitte?«, fragt der Mann und sieht mich nachdenklich an.
Melina gibt mir mit einer Handbewegung zu verstehen, dass ich lieber Leine ziehen sollte. Hätte ich auch so gemacht.
21. Tag: Freitag
7:25 Uhr: Einhundertzwei Kilo. Wird Fettabsaugen eigentlich von der Kasse bezahlt? Ist ja nicht so, dass Schönheits-OPs ein reines Frauenthema wären. Ich kenne ein paar Typen, die sich freiwillig unters Messer gelegt haben und zufrieden damit sind. Tom zum Beispiel, der Schwager von Bernd, hat sich die Halspartie machen lassen, was wir alle gut verstehen konnten. Der arme Kerl hatte vorher ein Vierfach-Kinn, und das ist nach dem Eingriff zu fünfzig Prozent korrigiert.
Oder Gregor, der in einem echten Old-School-Bodybuilding-Studio trainiert, in dem es nach Eisen, Schweiß und kleinen Hoden riecht. Die anderen Jungs haben sich immer über ihn lustig gemacht, weil er auch nach vier Jahren Training immer noch Waden wie Kate Moss und einen Gluteus Maximus - sprich Hintern - wie Gandhi hatte. Gregor redete mit einem Arzt, der eigentlich für Brustvergrößerungen bekannt ist, und der meinte, dass das kein Problem wäre. Gregor ließ es machen und trainiert seitdem stolz im Tanga. Dass die Jungs im Studio immer noch über ihn lachen und sich wünschen, er hätte am Bizeps Nippel und am Hintern ein Dekolleté, überhört er einfach.
Aber was mache ich mir eigentlich für blöde Gedanken? Ich bin zwar ein wenig zu schwer. Aber so schlimm ist es auch wieder nicht. Ein wenig Sport und ein wenig Diät, und ich kriege die Sache schon in den Griff. Aber eine OP wäre nun wirklich übertrieben.
9:47 Uhr: Gerade im Büro angekommen, verziehe ich mich erst einmal in die Küche, um einen Kaffee zu trinken. Treffe dort zu meiner Überraschung auf Gabriel, meinen Chef, der mich mit den Worten begrüßt: »Guten Tag, Herr
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