Herrentag: Anwalt Fickels erster Fall (German Edition)
waren es bestimmt fünfmal so viel.
Zu seinem Leidwesen hatte der Fickel zeitlebens mit einer entsetzlichen Höhenangst zu kämpfen. Als Kind hatte er mal im Rahmen eines Sichtungslehrgangs des Oberhofer Skisprungvereins auf der Hans-Renner [ 44 ]-Schanze im Kanzlersgrund gestanden, und es war ihm nahezu unfassbar erschienen, wie dort ein Mensch freiwillig runterspringen konnte. Zu seinem Glück verfügte er schon damals über einen derart kräftigen Knochenbau, dass er gleich zu den Schlittensportlern weiterdelegiert wurde. Abgründe waren jedenfalls nicht direkt sein Ding, wobei: Mit seelischen Abgründen sah es schon anders aus. Natürlich hätte der Fickel nur zu gern einen Blick durch das Nachbarfenster riskiert. Und wer hätte es gedacht? Da kam ihm tatsächlich eine Idee!
Zunächst ging er wieder in seine Suite zurück und betrachtete ausgiebig den dort befindlichen skandinavischen Designer-Schreibtisch, maß ihn mit seinen Armen aus und hob ihn probeweise an. Schließlich räumte er die Platte leer, setzte sich darauf, wippte und sprang sogar darauf herum, um die Stabilität des edlen Möbelstücks zu testen. Zufrieden mit dem Ergebnis, schleppte er den Schreibtisch auf den Balkon. Dort hievte er das Teil hoch und wuchtete es mit der Kraft eines ehemaligen Spitzenathleten Stück für Stück vorsichtig über das Geländer. Und sieh mal einer an: Wenige Sekunden später hatte der Fickel eine solide Brücke, über die er bequem zum Nachbarbalkon krabbeln konnte – Matula war nix dagegen!
Aber erstaunlich, dass man sogar als Voyeur beschämt sein kann angesichts dessen, was andere so treiben, wenn sie sich unbeobachtet wähnen. In der Suite des Landrats fand nämlich gerade eine Art Polonaise statt, nur dass die beteiligten Männer ihre Hände nicht unbedingt auf den Schultern der Damen hatten. Ein Partygast lag im Nachbarraum auf dem Sofa und ließ sich von Sveti oder Slavi »massieren«. Der Exner zog sich irgendwas in die Nase, während die Ilona züchtig neben ihm saß und einen Cocktail schlürfte. Der Landrat stand – immerhin noch fast vollständig bekleidet – daneben und unterhielt sich angeregt mit einem kleinen Glatzkopf. Leider konnte der Fickel durch das angelehnte Fenster nicht verstehen, was da geredet wurde, dafür war die Musik immer noch viel zu laut. Irgendwas zwischen Boney M. und DJ Ötzi. Für alle Fälle holte der Fickel sein Handy raus. Zwar brauchte er glatte zehn Minuten, um herauszufinden, wie man mit so einem »Hightechhandy von vor acht Jahren« einen Film drehen kann, aber immerhin: Man ist ja lernfähig!
Wieso auch immer der Fickel sich just in dem Moment an die Worte des Kriminalrats auf der Herrentoilette der Goetzhöhle erinnerte – von den anwesenden circa ein bis zwei Dutzend Männern war vom Alter her jedenfalls keiner dabei, der als Sohn des Landrats in Betracht kam. Doch wie sah es eigentlich mit einer Tochter aus? Der Recknagel hatte lediglich von einem »Abkömmling« gesprochen. Die anwesenden Mädchen waren jedenfalls allesamt kaum älter als zwanzig. Allerdings: Wer feiert schon eine Orgie in Anwesenheit seiner eigenen Tochter?
Der Fickel wurde aus seinen Überlegungen gerissen, als plötzlich ein neuer Partygast in der Goethe-Suite erschien, jemand, den der Fickel als Allerletzten auf einer Orgie erwartet hätte: eine hochgewachsene Frau mit roten Haaren, die anscheinend wild entschlossen zur Musikanlage ging und unter dem wilden Protest der Umstehenden die Musik abdrehte. Der Fickel war gespannt wie eine Skibindung, was jetzt geschehen würde. Im Grunde war das so wie Hitchcock und Elfmeterschießen zusammen, mindestens.
»Ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit!«, rief die Oberstaatsanwältin Gundelwein. Irgendetwas an ihr war anders als sonst, aber der Fickel hätte nicht sofort sagen können, was. Die Gäste sahen teils mit Befremden, teils mit offener Empörung zu der Störerin.
»Sie sind alle verhaftet. Alle!«, rief die Oberstaatsanwältin.
Einige Sekunden herrschte Ratlosigkeit. Dann brach die Gundelwein in ein irres Lachen aus.
»Reingefallen!«, prustete sie. »Da habe ich euch einen hübschen Schrecken eingejagt, was?« Einige Gäste lachten erleichtert mit. Der Landrat schüttelte genervt den Kopf. Jetzt erkannte der Fickel, was an seiner Exfrau anders war. Er hatte sie noch nie so betankt erlebt.
»Musik!«, befahl die Oberstaatsanwältin mit schwerer Zunge. »Jetzt wird gefeiert!«
Die Ilona drehte die Musik lauter, und anfänglich kapierte der
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