Herrentag: Anwalt Fickels erster Fall (German Edition)
die Vertreter der Justiz, unter ihnen namentlich die verschwitzte Amtsgerichtsdirektorin Driesel und die alle überragende Oberstaatsanwältin Gundelwein. Letztere trug einen kleinen schwarzen Hut mit Trauerschleier, der nicht nur ihre roten Haare komplett verhüllte, sondern auch ihre Augen verdeckte.
Der Fickel ging beim Anblick seiner Ex sofort in Deckung, doch zu spät. Die Gundelwein hatte ihn natürlich bereits entdeckt. Und wie bei der stillen Post verbreitete sich die Nachricht von Fickels Anwesenheit durch den ganzen Trauerzug. Ob man es nun wirklich geschmacklos oder gar zynisch finden muss, wenn der Anwalt des mutmaßlichen Mörders die Beisetzung des Opfers besucht, sei einmal dahingestellt. Schließlich sollte selbst ein Strafverteidiger das Recht haben dürfen, menschliche Anteilnahme zu zeigen. Andere Kollegen, die die Verstorbene weit besser gekannt hatten, waren hingegen gar nicht erst erschienen, der Hager zum Beispiel, der mal wieder daheim in Bad Kissingen seine Ehe retten musste.
Um niemanden zu beleidigen, trat der Fickel pietätvoll den Rückzug an und setzte sich auf eine kleine Andachtsbank am Grab des Dichters Ludwig Bechstein. Von dort konnte er alles weiter im Auge behalten, ohne selbst in Erscheinung zu treten. Die Menge im Trauerzug scharte sich hinter dem Witwer zusammen, der allen Anwesenden ein Vorbild an Fassung und Selbstbeherrschung bot. Hoch aufgerichtet schritt der Landrat Kminikowski an der Spitze des Trauerzuges, dem schrecklichen Schicksal, das ihm seine Frau genommen hatte, wacker die Stirn bietend.
Doch ausgerechnet als der Trauerzug sich langsam den im Übrigen recht steilen Hang zur letzten Ruhestätte der Familie Kminikowski hinaufkämpfte, tauchte plötzlich wieder der Bucklige auf, der in der Kapelle die feierliche Stimmung gestört hatte. Zum allgemeinen Entsetzen warf er sich vor dem Pastor auf den Boden und brüllte ihm klagend unartikulierte Laute entgegen. Nachfolgend wälzte sich der riesenhafte Kerl in irren Verrenkungen auf dem Boden und streute sich zu allem Überfluss mit beiden Händen Erde auf den Kopf. Dabei rief er mit irrem Lachen: »Tot, tot, tot!« Der Fickel erhaschte einen Blick in die weit aufgerissenen Augen des Buckligen und sah darin die nackte Angst der Kreatur vor Tod und Vergänglichkeit.
Doch weder der Pastor, noch der Landrat, noch irgendjemand sonst nahm weiter Notiz von dem menschlichen Hindernis. Der Trauerzug beschrieb einen kleinen Bogen um ihn herum und zog unbeirrt wie eine Ameisenkolonne weiter seinem Ziel entgegen. Allerdings tauchten nur wenige Augenblicke später zwei stämmige Kerle in Krankenpflegerkluft auf und nahmen sich des jungen Mannes fürsorglich an. Soweit man das aus der Entfernung beurteilen konnte, redeten sie mit Engelszungen auf ihn ein, bis er sich schließlich widerstandslos von ihnen vom Friedhof führen ließ.
Doch damit war die Störung noch immer nicht beendet, denn beim Anfahren machte der babyblaue Renault der Pfleger offenbar aufgrund eines defekten Auspuffs einen derartigen Heidenlärm, dass sich einige der Älteren spontan an das Motorengeräusch des guten alten T34 erinnerten, mit dem das 117. Mot.-Schützenregiment der 8. sowjetischen Gardearmee bis zu ihrem Abzug aus Meiningen regelmäßig Spritztouren durch die Stadt unternommen hatte.
Der Fickel entsann sich noch gut der Nächte in seiner Kindheit, wenn er von dem unheimlich rasselnden Geräusch der Panzerketten geweckt worden war – und der am nächsten Morgen zu bestaunenden Spuren im Straßenbelag, die von der alles zermalmenden Macht der Roten Armee gezeugt hatten. Heute sieht das Ehrenmal auf dem Friedhof für die gefallenen Sowjetsoldaten mit den integrierten Gräbern der Zwangsarbeiter ein bisschen heruntergekommen aus; und es gibt nicht wenige, die das als eine Schande empfinden – zum Beispiel der Kriminalrat Recknagel, der noch bis 1992 aktives Mitglied in der DSF [ 24 ] gewesen war.
Zunächst hatte der Kriminalrat nicht vorgehabt, an der Trauerfeier für die Richterin Kminikowski teilzunehmen, aber dann hatte er sich doch dafür entschieden, und sei es nur aus dem Grund, um bei der Gelegenheit auch endlich mal wieder am sowjetischen Ehrenmal vorbeizuschauen und dabei ein bisschen für Ordnung zu sorgen. Die Trauerfeier hatte er in der Kapelle mitverfolgt und sich danach ganz hinten in den Trauerzug eingereiht, um sich bei der erstbesten Gelegenheit unauffällig davonzustehlen.
Doch schon nach wenigen Metern meldete ihm seine
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