Herrentag: Anwalt Fickels erster Fall (German Edition)
darauf zwei athletisch wirkende Friedhofsangestellte auf, die den Buckligen mit sanfter Gewalt nach draußen führten, wo sich bereits Schlangen am Eingang bildeten.
Die Kapazität der Kapelle reichte für die Masse der Trauergäste längst nicht aus, auch wenn sich der Meininger Friedhof in Sachen Größe und Bedeutung im internen Thüringer Vergleich keineswegs verstecken muss. Schließlich hatten hier zahlreiche Promis ihre letzte Ruhestätte gefunden, selbst wenn sie vorzugsweise woanders gelebt hatten [ 23 ]. Und so bezeugt der Friedhof, was jeder Bewohner bestätigen kann: Meiningen ist zum Sterben schön!
Der Parkfriedhof verfügt jedoch noch über eine weitere Eigenheit, die ihn vor allen anderen auszeichnet, nämlich seine exponierte Hanglage am östlichen Stadtende. Wer immer das entschieden hatte, wollte, dass die Toten eine schöne Aussicht haben oder dass die Taxifahrer sich an den Witwen und Witwern eine goldene Nase verdienen. Die Beerdigung der Kminikowski stellte praktisch ein Konjunkturprogramm für die Meininger Personenbeförderungsbranche dar. Zur Verstärkung waren sogar Großraumtaxis aus Schmalkalden und Zella-Mehlis angerückt. Schmarotzer gibt es immer.
In der Kapelle war es inzwischen so eng geworden wie in einem Tokioter U-Bahn-Waggon im Berufsverkehr. Und da der Fickel sowieso zu Klaustrophobie neigte, verzog er sich vorsichtshalber nach draußen, wo die Trauerveranstaltung für die Unglücklichen, die drinnen keinen Platz mehr gefunden hatten, mittels kleiner Lautsprecher live übertragen wurde, auf gut Deutsch: Public Mourning .
Als der Pastor das Wort ergriff, wurde es mit einem Schlag sehr still unter den Anwesenden, auch oder gerade weil die Qualität der Übertragung zu wünschen übrig ließ: »Wir trauern heute um Sylvia Kminikowski, ein hoch geschätztes und wertvolles Mitglied unserer Gemeinde …« Knirschen und Knarzen aus dem Lautsprecher. »… die in gottgefälliger Weise …« Summmmmm . »… das geprägt war durch Arbeit und den Dienst am Nächsten …« Trrrrrrr! »… ein Leben für Recht und Gerechtigkeit …« Ssssssssssssst .
Eigentlich war der Fickel mit dem Hintergedanken auf den Friedhof gekommen, unter den Trauergästen diskret ein paar Recherchen anzustellen. Wenn der wahre Täter nämlich anwesend war, dann würde er sich inmitten der trauernden Angehörigen und Freunde seines Opfers sicher nicht besonders wohl in seiner Haut fühlen, jedenfalls soweit der Kerl zu menschlichen Empfindungen überhaupt noch in der Lage war. Der Fickel erhoffte sich nicht weniger, als dass sich der Täter durch sein schlechtes Gewissen selbst entlarven würde.
Während die Trauerveranstaltung drinnen in der Kapelle ihren Fortgang nahm, schlängelte sich der Fickel also unbemerkt durch die Menge, die sich um die Lautsprecher gebildet hatte, und blickte den Anwesenden tief in die Augen, sofern das bei den vielen Brillengestellträgern überhaupt möglich war. Doch anscheinend hatten bei der Veranstaltung alle ein reines Gewissen – außer der Driesel vielleicht, die sich in ihrem überfüllten Taxi aus Versehen auf den repräsentativen Trauerkranz der Mitarbeiter des Amtsgerichts gesetzt hatte, der nach dieser Behandlung zwischenzeitlich leider überhaupt nicht mehr repräsentativ aussah. Um sich und die Kollegen nicht zu blamieren, hatte sie von der Friedhofsgärtnerei noch schnell aus eigener Tasche ein paar Blumen in den Kranz binden lassen und sich in der Folge etwas verspätet, was ihr natürlich enorm unangenehm war.
Der Pastor kam langsam zum Ende: »Wir bitten dich, oh Herr …« Ratatatatattttt . »… erbarme dich …« Sssssssst . »…die Seele unserer Schwester …« Ploing!
Die Trauergäste fummelten verzweifelt an ihren Hörgeräten herum. Leider war die Qualität der Tonübertragung inzwischen keinen Deut besser geworden. Deshalb wanderten die Ersten bereits ab, als das Streichquartett der Meininger Philharmoniker das »Ave Maria« spielte und als Zugabe eine konzertante Fassung von » Knocking on Heavens Door« , interpretiert von dem Meininger Startenor Boris Keidies.
Wenig später flog die Tür der Kapelle auf, und der Trauerzug wälzte sich unter reger Anteilnahme aller Anwesenden ins Freie; vorneweg schritt der Pastor, die Urne wie ein Rugby-Ei vor sich her tragend. Ihm folgte der Landrat direkt auf den Fersen, gerahmt von seinen Schwiegereltern und den Geschwistern der Verstorbenen. Nach den Angehörigen kamen zunächst die Honoratioren der Stadt und
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