Herrentag: Anwalt Fickels erster Fall (German Edition)
juvenil.
Aber komisch, der Fickel schien sich seinerseits nicht so gut gehalten zu haben, denn der Exner erkannte ihn keineswegs, nicht einmal, als er sich mit vollständigem Namen vorstellte. Da hat man’s mal wieder: Als Schüler nimmt man seine Lehrer einfach viel zu ernst, schleppt ihre Worte und Einschätzungen, Lob wie Tadel, vielleicht ein Leben lang mit sich rum, und man selbst ist für sie nur Teil einer anonymen Masse, selbst wenn man im Unterricht noch so gescheit oder – wie in Fickels Fall – extrem faul und aufsässig gewesen ist.
Der Fickel nutzte natürlich die Gelegenheit und bestellte sich im »Henneberger Haus« eine Bratwurst mit Kartoffelpüree und Sauerkraut, schließlich war er noch nicht dazu gekommen, Mittag zu essen. Der Exner war schon eine Mahlzeit weiter und orderte für sich ein Stück Zupfkuchen und ein Kännchen Kaffee, aber mit fettarmer Milch. Wegen seines Diabetes. »Irgendwo muss man ja mal anfangen, net wahr?«
Die Frau Olschewski von der Betreuungsbehörde hatte offenbar bereits gute Vorarbeit geleistet, sodass der Fickel sich nicht lange mit Smalltalk aufhalten musste. Der Exner plauderte gleich von sich aus und »frei von der Leber weg« über »Nachbarn in Meiningen«, wobei er irritierenderweise fast denselben verklärenden Wortschatz benutzte, mit dem er einst im Unterricht die Errungenschaften der »Deutschen Demokratischen Republik, des ersten Arbeiter- und Bauernstaates auf deutschem Boden«, gewürdigt hatte.
Der Fickel fühlte sich natürlich sofort wieder auf die Schulbank versetzt, als der Exner wie einst in den guten alten Zeiten deklamierte, Nachbarn in Meiningen sei ein »Musterbeispiel für gelebte Solidarität«. Und dann, mit sich langsam steigerndem Pathos: »So was findet man ja sonst heutzutage gar nicht mehr!« Und eine Kuchengabel später: »Andere Kommunen beneiden uns doch für die Bedingungen, die die Senioren hier bei uns in Meiningen vorfinden: günstiger Wohnraum, perfekte Infrastruktur, und – last but not least – der herrliche Thüringer Wald! Die Leute kommen scharenweise aus Hessen und Franken zu uns rüber – neuerdings sogar aus Baden-Württemberg!«
Dieses Phänomen war dem Fickel nicht neu: Wenn ein Ossi einen anderen zu etwas überreden will, dann verweist er meist als Erstes darauf, dass man das schließlich im Westen auch so macht. Der Fickel war allerdings der Letzte, der von den Vorzügen der Thüringer Landschaft überzeugt werden musste. Aber das Szenario, das der Exner entwarf, eröffnete natürlich eine ganz neue Perspektive für seine Geburtsstadt: Meiningen als international bedeutender Geriatriestandort, eine Art Disney World für Alte!
Der Exner wollte jetzt natürlich seinerseits ein paar Informationen: Ob der Fickel pflegebedürftige Eltern habe oder andere Verwandte? Er ging jetzt ganz und gar in seiner Rolle als menschliche Instanz auf, eher Pfarrer als Parteisekretär: »In meiner Funktion weiß ich, wie schwer es einem fällt, in der Familie offen über das Thema Pflege oder Heimunterbringung zu sprechen«, erklärte er salbungsvoll.
Da besann sich der Fickel erneut auf das Angebot der Frau Schmidtkonz. Nunmehr alle restlichen ethischen Bedenken über Bord werfend, erzählte er seinem ehemaligen Lehrer was vom Pferd, wie einsam und hinfällig seine Vermieterin sei, also im Grunde das genaue Gegenteil der echten Frau Schmidtkonz. Der Exner wirkte bei der Erwähnung des Namens ein bisschen alarmiert, denn die Geschichte vom René hatte schließlich in jeder Zeitung gestanden. Doch der Fickel machte aus der Not eine Tugend und erklärte dem Exner, dass die arme Frau jetzt niemanden mehr habe, der sich um sie kümmere, weil ihr Enkel ja nun leider bis auf Weiteres im Knast sitze.
Da zeigte der Exner sich voll und ganz von seiner »solidarischen« Seite und meinte seufzend, niemand könne etwas für seine Familie, und jeder Mensch habe das Recht auf eine würdevolle Betreuung im Alter. »Nachbarn in Meiningen« e. V. würde jedenfalls ohne Ansehen der Person die Pflegschaft übernehmen – oder er könne auch persönlich als Betreuer einspringen, ganz wie die verehrte Dame es wünsche. Manch einer habe ja bei Vereinen so seine Vorbehalte. Dafür müsse nur die Zustimmung des Vereins eingeholt werden, was aber, im Vertrauen gesagt, kein Problem darstelle.
Der Fickel zeigte sich direkt beeindruckt, welche Ressourcen in seinem Staatsbürgerkundelehrer offenbar all die Jahre geschlummert hatten! Wenn Leute seines
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