Herrgottschrofen
Riesenschweinerei handeln musste. Sie mussten ihm mit allem Möglichen und Unmöglichen gedroht haben, dass er da mitmachte, redete sie sich ein.
Nicht einmal Verkehrszeichen und Absperrungen konnten sie von ihrer Route abbringen. Sie wollte geradeaus über den Sendlinger-Tor-Platz marschieren und nicht die Fußgängerunterführung benutzen, um auf die andere Seite zu gelangen. Sie war ein freier Bürger eines freien Landes.
Mit unverminderter Geschwindigkeit und ohne rechts und links zu schauen, rannte sie schnurstracks auf den innerstädtischen Verkehrsknoten zu. Sie flankte über die Absperrung der Trambahnhaltestelle und schritt auf die Straße hinaus. Dass dreißig Meter weiter eine Fußgängerampel eine sichere Überquerung der sieben Fahrspuren gewährleistet hätte, interessierte sie nicht. Sie marschierte zwischen den heranrasenden Autos und Radl-Rambos durch. Trams, Busse, Autoverkehr aus allen Richtungen sollten gefälligst stillstehen, wenn Dr. Dorothee Allgäuer mit der Wucht eines Orkans auf eine der meistbefahrenen innerstädtischen Kreuzungen zuschritt.
Ein schrilles Klingel- und Hupkonzert brach los, als die anderen Verkehrsteilnehmer wegen der Frau im roten Mantel Vollbremsungen einlegen mussten. Wie durch ein Wunder kam sie nicht unter die Räder.
Auf der anderen Seite, vor dem Sendlinger Tor, ging es ihr schon wieder besser. Das Adrenalin, das die Mutprobe in ihr ausgeschüttet hatte, hatte die Zornhormone wohl von den Rezeptoren im Kleinhirn verdrängt. Sie mäßigte ihren Schritt und richtete den Oberkörper wieder auf, sodass sie kerzengerade und mit der ihrer Körpergröße angemessenen Würde durch die Sendlinger Straße schritt.
Nun nahm sie die City in Angriff. Sie würde ihre Kreditkarte ordentlich bluten lassen. An irgendeinem unschuldigen Opfer musste sie ihren Ärger ja auslassen. Warum nicht an dem kleinen Plastikkärtchen, das sie durch die Abrechnungsmaschinen in den Luxusläden der Maximilianstraße ziehen würde, bis es nur noch so quietschte. Ja, genau. Eine ordentliche Dosis »Shopping forte retard« war genau die richtige Therapie für die Diagnose »Ungerechtigkeit«, die sich am Symptom »fortgeschrittene Gereiztheit« manifestierte.
Bevor sie in den Glamour der teuersten Meile der Republik eintauchte, brauchte sie einen Espresso. Nein, einen doppelten. Nicht, dass sie müde gewesen wäre. Im Gegenteil. Ihre Systeme liefen unter Starkstrom. Aber es würde guttun, in einem Café innezuhalten, um sich die Situation noch einmal ganz en détail zu Gemüte zu führen. Darüber würde sich auch ihr Mütchen kühlen, und der Einkaufstaumel, dem sie sich danach hingeben würde, würde nicht ganz so breite Schneisen in ihr Erspartes schlagen.
Sie bog hinter dem Kaufhaus Konen nach rechts ins Rosental ab und kehrte in das kleine Segafredo-Café am Rindermarkt ein. Diese Cafébar war eines der letzten echten Stücke Italien in der nördlichsten Stadt Italiens. Der Barista Bruno quittierte ihre Kaffeebestellung mit einem professionellen »subito«, ließ den Caffè doppio aus der Maschine und stellte den Zuckerbehälter und ein kleines Stück Torta della nonna dazu auf den Tresen.
Mit der Süßigkeit gelang es Bruno auch ohne Italienergetue, die finstere Miene seiner Stammkundin aufzuhellen. »Du weißt einfach, was Frauen brauchen, Bruno«, sagte sie zu ihm.
»Bin i Italiener, eh?«, konnte es sich der Barmann dann doch nicht verkneifen. Er senkte den Kopf und schaute die schöne Dottoressa mit einem schmachtend-lasziven Dackelblick an.
Auf eine ausführlichere Diskussion über die besonderen Fähigkeiten italienischer Männer hatte Dorothee Allgäuer keine Lust. Außerdem hatte sie während ihres Studiums ausreichend Gelegenheit gehabt, diese Qualitäten zu testen.
Der Genuss der Torte besänftigte sie. Doch gefallen lassen würde sie sich das nicht. Suspendiert. Von allen Fällen, die sich südlich der Autobahnausfahrt Starnberg in den kommenden Wochen zutrugen. Nun gut, es gab auch genügend Fälle, die aus dem restlichen Bayern nach München zur Untersuchung geschickt wurden. Aber einmalig war dieses Vorgehen schon. Nur, weil sie ein Wochenende Spaß mit einem von dort draußen gehabt hatte.
Gut, mit einem, der als Verdächtiger festgehalten wurde. Ob Gonzo wohl immer noch im polizeilichen Gewahrsam schmorte? Sie schämte sich ein wenig, dass sie bisher nur an sich und nicht an den Delinquenten gedacht hatte. Daher fummelte sie das Handy aus der Handtasche und wählte
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