Herrgottschrofen
traditionelle Arbeitsschürze der Männer, den er im Schuppen gefunden hatte, und legte das gute Stück über den gerade in Bearbeitung befindlichen Fensterladen. Er bemerkte, dass er, als er den Schleifstaub ausgespuckt hatte, versehentlich auch den unteren Rand des Schabers getroffen hatte. Ah, geh zu, muss eh in die Wäsche, dachte er sich.
Er ging ins Haus, wusch sich auf dem Klo die Hände mit Handwerkerpaste und setzte sich schließlich zu Kathi und ihrem Onkel an den Tisch in der Wohnküche.
Albert Frey hatte bereits aus seinem Rucksack einige Aktendeckel hervorgeholt. Das frisch eingeschenkte Weißbier stand vor ihm. Er nahm einen nicht zu großen Genießerschluck – es war noch vor zwölf Uhr mittags –, dann holte er zu seinem Referat aus.
»Um es kurz zu machen: Volltreffer. Zwar keine Polizeiakten, die liegen tatsächlich in München, und da müssen wir natürlich als Nächstes hin. Aber ich habe Hinweise auf … na ja, wenn nicht auf ein Verbrechen, dann zumindest auf das Untertauchen oder vielleicht auch Verschwinden einer jungen Frau, die Eisläuferin war. Zumindest einer jungen Frau, die viel Eislauf trainiert hat. Wie auch immer. Zumindest ist sie in den Fünfzigern verschwunden.«
Er machte eine Kunstpause, um die Spannung zu erhöhen. Die erwünschte Wirkung trat nach wenigen Sekunden ein.
»Jetzt komm, Onkel Albert, sag schon: wer, wie, was, wann, warum?« Kathi Mitterer hatte ein Praktikum bei der großen Zeitung in der großen Stadt gemacht. Vor fünfzehn Jahren. Mit dem Anton im Bauch war sie von dort zurückgekehrt.
»Also, über die Casa Carioca gibt es ziemlich wenig im Marktarchiv. Wenn es alte Unterlagen gibt, dann irgendwo bei den Amis, nur weiß ich nicht, ob die so ein gut gepflegtes Archiv haben wie unsere Gemeinde. Aber – und das sind so die wunderbaren kleinen Glücksmomente des Heimatforschers – jemand hat in den Achtzigern einen Nachlass im Marktarchiv abgegeben. Und in diesem Nachlass war ein kleines Tagebuch. Und das habe ich gefunden.«
»Und darin steht die Lösung?« Auch Hartinger wurde immer ungeduldiger.
»Na ja, nicht gleich auf den ersten Blick. Und … bitte, es ist alles nur eine Vermutung, die ich hier äußere, das muss ich voranstellen.«
»Bitte, stellen Sie …«
»Also, das Tagebuch gehörte oder gehört – denn vielleicht lebt sie noch – einer Josepha Stiller. Geboren am 2. März 1930 in Garmisch. Am Rießersee stand der Hof ihres Vaters. Sie war eine begeisterte, wenn man nicht sagen muss fanatische Eisläuferin.«
»Und die ist verschwunden?«, fragten Kathi und Hartinger wie aus einem Mund.
»Ja. Aber sie wurde nicht umgebracht. Wir wissen, wo sie wahrscheinlich ist. Darum sagte ich: Sie lebt vielleicht noch. Es geht um ihre Schwester, Franziska. Aber jetzt lasst mich mal eins nach dem anderen erzählen.«
»Wenn das Tagebuch aus einem Nachlass stammt, wieso ist sie nicht tot?«
»Aus dem Nachlass der Eltern. Aber jetzt lasst mich doch endlich erzählen!«
Hartinger und Kathi schauten sich an. Es war wohl das Beste, den alten Mann die Geschichte nach seiner Dramaturgie erzählen zu lassen.
»Wenn ich jetzt also darf? Josepha und Franziska – Franziska war oder ist die zwei Jahre ältere Schwester – sind am Ufer des Rießersees aufgewachsen. Und ihr wisst, dass dieser See eine Keimzelle des Eissports in Deutschland war. Eishockey, Curling, Eisstock und natürlich Eislauf in allen Varianten. Der berühmte Sportclub Riessersee wurde hier 1920 gegründet. Und in den Dreißigern mit dem Höhepunkt Olympia 1936 war der See zusammen mit dem Garmisch-Partenkirchner Eisstadion weltweit bekannt. Damit beginnt im Tagebuch die Geschichte von Josepha: mit Olympia 1936. Zu der Zeit ist sie sechs Jahre alt. Einer der allerersten Einträge, da kann sie kaum schreiben, lautet: ›I will eislaufn!‹ Da, schaut, ich hab’s rauskopiert. Sie hat es zehn Mal untereinander geschrieben. Und sie hat ein Zigaretten-Sammelbild von Sonja Henie daneben geklebt. Die war damals ein Weltstar. Hat hier in Garmisch auch die Olympiamedaille gewonnen. ›Sonja Henie‹ steht hier auch zwanzig Mal oder öfter im Tagebuch. Sie hat sie gemalt, ihr kleine Gedichterl gewidmet. Josepha war also – wie man heute sagen würde – Fan von Sonja Henie. Und in den Jahren nach Olympia trainiert sie im Winter wie eine Verrückte auf dem See vor ihrer Haustür. Da, schaut, ein bezeichnender Tagebucheintrag von 1940, ziemlich beeindruckend für eine
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