Herrgottschrofen
Zehnjährige.«
Albert Frey legte eine Kopie vor seine beiden Zuhörer und ließ sie selbst lesen:
23. Januar 1940
Gestern abend hab ich leider nichts geschrieben, weil ich war zu müd. Wir haben bis 12 Uhr Mitternacht geübt. Martin hat die Fackeln besorgt. Der Vater hat geschlafen, gottlob. Er hätt uns ins Haus geprügelt. Deutschland im Krieg, und wir denken an nichts als das Kringeldrehen, hätt er geschrien. So wie letzte Woche, als er uns erwischt hat. Heut früh sind wir um 5 auf und haben die Schlittschuhe wieder angezogen. Das heißt, Franzi ist liegengeblieben. Ihre Füße tun immer so weh. Martin ist aber wieder da und hat eine neue Fackel dabei. Er ist so lieb. Um 6 bin ich dann in den Stall zum Melken. Der Vater hat nichts gemerkt. Hoffentlich, lieber Gott. Laß ihn nichts merken. Das Eis ist zur Zeit so gut. Martin ist mein Freund. Für immer. Paß auf ihn auf, lieber Gott. Bitte.
»Armes Mädchen«, sagte Kathi. »Zwischen dem Vater, der Arbeit auf dem Hof und ihrem Hobby hin- und hergerissen.«
»Hobby? Das war bei der schon mehr als ein Hobby«, sagte Albert Frey. »Das ganze Tagebuch handelt eigentlich vom Eislaufen und nur am Rande von Vater und Mutter, von Martin und Franziska. Selbst im Sommer hat sie Sprünge geübt. Hat sich das wohl alles selbst beigebracht. Ohne Trainer oder Lehrer. Nur vom Zuschauen. Unglaublich.«
»Und dann?« Hartinger wurde wieder ungeduldig.
»Dann kam der Krieg auch nach Deutschland. Aber Garmisch-Partenkirchen blieb ja mehr oder weniger verschont. Im April ’45 marschieren die Amis ein. Josepha und und ihr Freund Martin sind zu dieser Zeit offenbar ein junges Liebespaar. Sie sehen von einem Versteck auf dem Kochelberg aus zu, wie die Panzer ins Tal rollen. Und dann machen ’46 die Amis die Casa Carioca auf. Josepha ist sechzehn. Und sieht ihre Chance. Und sie bekommt sie. Lest selbst …«
15. September 1946
Ja! Es ist passiert! Sie haben uns genommen! Ich darf auf das Eis! Auf das Eis in der Casa! Danke, lieber Gott. Es gibt Dich also wirklich. Sollen sie alle sagen, was sie wollen. Ich durfte vorlaufen. Sie wollen mich in die Truppe aufnehmen. Ich bin so glücklich. Wie noch nie. Ich kann es nicht glauben. Ich in der Casa! Franziska tut mir leid. Sie hat sich so bemüht. So viel geübt. Aber sie darf nur bedienen. Und Martin ans Bierfaß als Schankwirt. Na, das paßt ja! Danke, lieber Gott. Und gib Franziska eine zweite Chance, bitte.
»Wie schön sie das gemalt hat!« Kathi deutete auf die Bleistiftskizze unter dem Eintrag.
Albert Frey hielt ein Schwarzweißfoto der Casa Carioca daneben. »Ja, wie abgepaust. Wohl vielseitig künstlerisch begabt, die junge Dame. Und eine Schönheit. Da, seht, ein Foto von ihr als Tänzerin im Kostüm. Allerdings schon in den Fünfzigern. Da war sie bereits der Star in der Casa.«
»Pass auf, dass dir deine Schusser nicht rausfallen!«, ermahnte Kathi den Hartinger, weil der sich die junge Frau in dem Eislaufkostüm mit dem kurzen Rock und den für die damalige Zeit gewagt hohen Beinausschnitten allzu aufmerksam besah.
Sie war in einem Programmheft abgebildet, das Albert Frey dem Inventarstempel nach aus dem Werdenfelser Museum entliehen hatte. »Make a Wish« war die darin vorgestellte Revue betitelt.
Hartinger und Kathi blätterten die Broschüre erstaunt durch. »Irrsinn, welchen Aufwand die getrieben haben. Hier steht: hundertfünfzig neue Kostüme pro Show«, las Kathi vor.
»Ich hab’s euch ja gesagt, die Casa Carioca war der Eislauftempel«, bestätigte sich Albert Frey selbst. »Die Amis haben nicht gekleckert, sondern geklotzt.«
»Und unsere Josepha als Star mittendrin?«, wollte Hartinger wissen.
»Der Superstar. Sie muss sich vom jungen Ensemblemitglied ganz nach vorn getanzt haben. In drei der Winterprogramme, die ich gefunden habe, ist sie die Primadonna – oder wie das bei den Eisläuferinnen heißt. Und dann war sie plötzlich weg.«
»Also sind unsere Knochen am Herrgottschrofen doch von ihr?«
»Nein, sicher nicht. Ihre Knochen haben Karriere gemacht. In den USA. Schmeiß mal dein Google an und such Josepha Saunders. So hieß sie später. Besser bekannt als Jo Saunders. Sie hat den Chef der Garmischer US-Garnison geheiratet und ist mit ihm über den großen Teich. Und da hat sie es erst richtig krachen lassen.« Albert Frey kramte ein paar Ausdrucke von Webseiten hervor.
»Times Magazine, Newsweek, New York Times …«, murmelte Hartinger, während er die Blätter überflog.
»Wow –
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