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Herrgottschrofen

Herrgottschrofen

Titel: Herrgottschrofen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Ritter
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wurde nicht größer, er kam dem Ausgang des Tunnels nicht näher.
    Plötzlich aber stand er am Ende der Röhre. Sie war vergittert. Er rüttelte am Gitter. Da fiel das Gitter nach unten, und als er über die Kante blickte, stand er auf dem Herrgottschrofen. Die Wiese unter ihm war bedeckt von Frauenleibern, die von Planierraupen zusammengeschoben wurden. Auf den Planierraupen erkannte er das Gesicht des Lokaljournalisten Hartinger.
    Er drehte sich vor Grausen um, doch dort befand sich nur die Schwärze des Tunnels. Schritte näherten sich, aber er konnte nichts sehen. Die Schritte kamen immer näher. Dann fiel ein Schuss.
    Und Meier wachte auf. Schlafanzug und Matratze waren patschnass. Die Zudecke lag am Boden. Er musste sie im Schlaf von sich geworfen haben.
    Der Radiowecker zeigte 5: 45 in roten Ziffern. Er stand auf, schleppte sich unter die Dusche und wusch sich den Albtraum aus den Poren. Dann zog er sich seinen Trachtenanzug an und fuhr ins Rathaus. Er musste der Ursache für seinen Traum auf den Grund gehen.
    In seinem Büro angekommen, fuhr er den Laptop hoch und öffnete den Internetbrowser. Hochkomplexe wissenschaftliche Abhandlungen waren nicht sein Ding. Dafür hatte er die Spezialisten in seinen Ämtern. Aber in dieser Angelegenheit konnte er niemanden von denen zurate ziehen. Die letzten beiden Tage, seit ihm der Bagger-Toni Montagnacht reinen Wein eingeschenkt hatte, hatte er gegrübelt, wen er fragen konnte. Den Chef des örtlichen Fraunhofer-Instituts? Sicher, der wüsste Bescheid. Aber das täte er dann auch: Bescheid wissen. Über die geheimen Pläne. Und dann wüsste es bald halb Bayern. Und dann ganz Deutschland.
    Andererseits wollte der Bürgermeister es auch gar nicht so genau wissen. Im Internet nachsehen hätte er schon längst können. An diesem Morgen tat er es, nachdem ihm die Geschichte den Schlaf geraubt hatte. »Cäsar hatte davon geträumt, dass man ihn ermorden würde. Und er wurde ermordet.« Das war so ziemlich das Einzige, was bei ihm aus sieben Jahren Lateinunterricht hängen geblieben war. So war es im Schulbuch Roma I gestanden, das er in der fünften Klasse auf dem Gymnasium erhalten hatte. Sollte es ihm genauso ergehen wie dem römischen Imperator? Würde er den Rubikon überschreiten, wenn er dem Treiben des Bagger-Toni und der hohen Herren weiterhin nur zusah?
    Hätte er doch nur nicht darauf bestanden, es zu wissen. Er verfluchte sich dafür, dass er der absolute Herrscher über Garmisch-Partenkirchen sein wollte. Das musste er sein, um diesen Ort nach vorn zu bringen, und dennoch gab es offenbar Dinge, die waren auch für ihn eine bis zwei Nummern zu groß.Wenn die Pläne irgendwann ans Tageslicht kamen – und das mussten sie, ewig ließ es sich nicht verheimlichen, was da gespielt wurde –, konnte er sich immer noch als Unwissender und Retter der Gemeinde in Szene setzen. Allerdings … Wollten die Leute einen Bürgermeister, der nicht wusste, was bei seinem Prestigeprojekt geschah? Würde ihm jemand glauben, dass er keine Ahnung gehabt hatte?
    Diese Überlegungen waren müßig.
    Also stellte sich die Frage: Wie sollte er mit diesem Wissen umgehen. Sollte er das gut finden oder schlecht? Sollte er dafür sein oder dagegen? Sollte er so tun, als ob er dafür sei, oder sollte er sich als Gegner geben? Er wusste schlicht nicht, was seine Garmisch-Partenkirchner davon halten würden. Bei den anderen Großprojekten war es immer um Sportstätten gegangen. Oder um Einkaufszentren. Da ging im Großen und Ganzen alles durch. Auch wenn die Schanze so unglaublich teuer wurde, dass das nie einer erfahren durfte. Auch wenn ihm die supermodernen Konsumtempel im Ortskern selbst nicht gefielen.
    Er wusste aber immer: Die Leute wollten am 1. Januar Garmisch-Partenkirchen auf den TV-Bildschirmen sehen und das Gefühl haben, dass die Welt an diesem Neujahrstag zu ihrem Ort blickte, wo sich einige junge bulimische Burschen der sinnlosesten aller sinnlosen Sportarten, dem Skispringen, widmeten. Und die Leute wollten einkaufen, aber nicht jedes Mal nach München oder Innsbruck fahren müssen, um ihr Geld auszugeben.
    Er hatte ihnen mehrere Legislaturperioden lang das Gefühl gegeben, dabei und in einer kleinen Metropole beheimatet zu sein. Einer Metropole, in der es alles gab, was auch das Leben in einer großen Stadt angenehm machte: Shopping, Kino, Theater. Ohne die Nachteile der City: Kriminalität, Verschmutzung, Verkehrschaos. Das alles hatte er ganz gut in den Griff bekommen, wie

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