Herrin der Falken - 3
Schweigend ging es immer weiter bergauf. Die einzigen Laute waren die kurzen, nervösen Schreie der verkappten Kundschaftervögel. Wie sie so im Dunkeln dahinritt und Caryl, klein und hilflos, in ihren Armen hielt, stellte Romilly sich vor, Rael schlafe an ihrer Schulter, und die Sehnsucht nach ihm schmerzte sie sehr. Würde sie ihren kleinen Bruder jemals wiedersehen?
Der enge Pfad war steil, so steil, daß Romilly sich im Sattel vorbeugen mußte. Das Eis unter den Hufen des Pferdes machte die Sache nicht besser. Sie drückte Caryl an sich, damit er nicht aus dem Sattel rutschte. Aber auch die Männer hatten alle Hände voll zu tun, mit den aufgeregten Chervines und Kundschaftervögeln fertig zu werden. Trotz ihrer Hauben beruhigten die Vögel sich nicht. Sie schlugen mit den Flügeln und hüpften auf den Blocks umher. Das machte Pferde und Chervines noch scheuer. Romilly fragte sich, was sie mit ihren schärferen Sinnen wahrnehmen mochten. Sie wäre gern in Rapport mit ihnen gegangen, um es herauszufinden, hätte sie sich nicht ganz darauf konzentrieren müssen, sich selbst und das bewußtlose Kind im Sattel zu halten.
Einmal erklang ein durchdringender, jammernder Schrei. Er ging durch Mark und Bein und ließ Romilly das Blut in den Adern erstarren. Ihr Pferd erschrak und schnaubte, und nur mit großer Anstrengung behielt sie es unter Kontrolle. Die Kundschaftervögel gerieten in Panik. Romilly hatte einen solchen Schrei noch nie gehört, aber sie brauchte niemanden zu fragen, was das war. Da hatte ein Banshee geschrien, einer dieser großen, flugunfähigen Vögel, die oberhalb der Schneegrenze hausen. Sie sind so gut wie blind, nehmen jedoch die Körperwärme jedes Lebewesens wahr, und mit ihren gewaltigen Krallen können sie einem Pferd oder einem Menschen mit einem einzigen Streich den Leib aufreißen. Und es war Nacht, wenn sie noch am besten sehen, während sie im Licht der roten Sonne blind sind. Romilly wußte, daß sie mit ihren entsetzlichen Schreien ihre Beute vor Angst lähmen wollen. Nachdem sie selbst ein Banshee aus der Ferne gehört hatte, hoffte sie, niemals eines zu sehen.
Caryl stieß einen leisen Schmerzenslaut aus und regte sich. Seine Hände wanderten zu der Beule an seinem Kopf. Die Bewegung erschreckte das Pferd; fast wäre es auf dem Eis ausgeglitten. Romilly beugte sich vor und flüsterte dem Jungen zu: »Es ist alles in Ordnung, aber du mußt ruhig sein. Der Weg ist gerade hier gefährlich, und wenn du das Pferd ängstigst, könnte es fallen – und wir mit ihm. Sei ruhig, Caryl.“
»Mistress Romilly?« hauchte er, und sie antwortete ärgerlich: »Pst!« Er verstummte und sah zu ihr hoch. Romillys Augen hatten sich so an die Dunkelheit gewöhnt, daß sie die Furcht in seinem Gesichtchen erkannte. Er betastete vorsichtig die Beule an seiner Schläfe und zwinkerte. Hoffentlich begann er nicht zu weinen!
»Wie bin ich hergekommen? Was ist geschehen?« flüsterte er. Dann erinnerte er sich. »Jemand hat mich geschlagen! « Es klang eher überrascht als zornig. Vermutlich war er, ein verwöhntes Tieflandkind, noch nie geschlagen worden, niemand hatte bisher anders als freundlich mit ihm gesprochen. Sie drückte ihn fest an sich.
»Hab keine Angst«, raunte sie ihm zu. »Ich passe auf, daß er dir nichts mehr tut.« Ja, sollte Alaric das Kind noch einmal bedrohen, würde sie sich dazwischenwerfen. Caryl zappelte, bis er bequemer im Sattel saß. Jetzt, wo er sich aufrechthalten konnte und nicht länger ein totes Gewicht in ihren Armen war, fiel es Romilly leichter, die Herrschaft über das Pferd zu behalten. »Wo sind wir?« fragte er leise.
»Auf dem Weg, zu dem du uns geführt hast. Dom Carlo hat dich mitgenommen, weil er dich nicht bewußtlos in der Kälte liegenlassen wollte. Er meinte es nur gut mit dir. Alaric sieht in dir eine Geisel, aber Orain wird verhindern, daß er dir noch einmal etwas tut.«
»Lord Orain ist immer freundlich zu mir gewesen«, meinte Caryl nach kurzem Nachdenken, »schon als ich noch ganz klein war. Ich wünschte, mein Vater hätte nicht mit ihm gestritten. Und Vater Meister wird sehr böse auf mich sein.«
»Es war nicht deine Schuld.«
»Vater Meister sagt, alles, was uns zustößt, ist unsere eigene Schuld, auf diese oder jene Weise«, antwortete das Kind mit gedämpfter Stimme. »Wenn wir es nicht in diesem Leben verdient haben, dann in einem anderen. Widerfährt uns etwas Gutes, und wir haben es verdient, sollen wir uns dessen erfreuen. Und wenn es etwas
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