Herrin der Falken - 3
zu. Eine Mutter saß am Bett eines kranken Kindes und sang mit einer Stimme, die heiser vor Sorge und Müdigkeit war. Ein im Krieg verwundeter Mann hatte Fieber in seinem Beinstumpf und warf sich hin und her…
Ein Hund knurrte in einer Seitenstraße, und Romilly erkannte, daß er gleich in wütendes Bellen ausbrechen würde. Sie wandte sich ihm zu, beruhigte ihn, spürte seine Verblüffung: Wohin war die Störung verschwunden? Lautlos schlich sie an ihm vorüber.
Jetzt hatte sie die Stadtmauern und die Kundschaftervögel hinter sich. Ob man daran gedacht hatte, die übrige Stadt gegen Laran zu schützen? Oder hatten die wenigen leronyn, die Rakhal zur Verfügung standen, genug damit zu tun, das Tor abzuschirmen, so daß das Innere der Stadt offen dalag?
Vorsichtig, bereit, sich bei der leisesten gedanklichen Berührung zurückzuziehen, schickte sie ihre Sinne hinaus… Sie wußte, daß Orain wenig Laran besaß, aber kopfblind war er nicht, und sie fühlte ihn irgendwo; seine schmerzenden Verletzungen ließen ihn nicht schlafen. Sie durfte ihm ihre Anwesenheit nicht verraten, er mochte von Rakhals oder Lyondris Zauberern überwacht werden. Lautlos bewegte sie sich auf ihn zu, stahl sich an einem Häuserblock der alten Stadt nach dem anderen vorbei. Kein Hund bellte, keine Maus in den Mauern quiekte. Ruhe, Ruhe, Frieden über der Stadt. Pferde dösten in ihren Ställen, Katzen unterbrachen ihre Mäusejagd und schliefen vor Herdfeuern ein, unruhige Säuglinge verstummten unter dem mächtigen Bann. Von einem Ende der Stadt Hali zum anderen empfand kein Lebewesen etwas anderes als Frieden und Ruhe. Sogar die Gebärende fiel in einen friedlichen Schlaf, und die Hebamme schlummerte neben ihr. Frieden, Ruhe, Schweigen…
Vor einem Haus nahe der gegenüberliegenden Mauer – sie hatte, eingehüllt in ihren Zauber, die ganze Stadt durchquert – nahm sie die Gedanken zweier Menschen war, die sie schon einmal berührt hatte. Orain… da drinnen lag Orain, betäubt von dem Schlaf, den sie über alle Wesen geworfen hatte, aber Schmerz, Furcht, Verzweiflung durchdrangen ihn, dazu die Hoffnung, es werde ihm vielleicht irgendwie gelingen, schnell zu sterben. Vorsichtig, vorsichtig sandte sie einen Hauch von einem Gedanken aus.
Bleib ruhig, bewege dich nicht, damit niemand mißtrauisch wird, wenn du erwachst…
Die Tür quietschte, aber drinnen war alles so still, daß der schlafende Mann vor Orains Tür sich nicht regte. Weiter hinten spürte Romilly die steinerne Wand von Lyondri Hasturs Gedanken – auch er war tief beunruhigt. Das Schreckliche ist, daß Lyondri nicht von Natur aus grausam ist. Er will nicht einmal zusehen, wenn die Folterknechte seine schurkischen Befehle vollziehen. Er tut dies nur der Macht wegen!
Seine Gedanken formten eine Frage, suchten nach einem Eindringling. Romilly verbarg ihren eigenen Geist schnell in dem einer Katze, die vor dem Herd schlief, und einen Augenblick später schlief auch Lyondri Hastur wieder ein. Der Wachposten war nicht einmal aufgewacht.
Selbst wenn ich ihn so schnell töte, daß er nicht mehr aufschreien kann — Romillys Hand schloß sich fester um den Dolch an ihrem Gürtel – wird sein mentaler Todesschrei Lyondri wecken! Aber vielleicht schreckt er davor zurück, Orain mit eigenen Händen umzubringen…
Sie mußte es tun. Eine andere Möglichkeit gab es nicht. Dann merkte sie, daß der Wachposten tiefer schlief, als sie es mit ihrem Zauber, der die ganze Stadt erfüllte, hätte bewirken können. Und ein anderer Geist berührte ihren. Hinter ihr war ein leises Geräusch, sie fuhr herum, den Dolch in der Hand. »Töte mich nicht, Romilly«, hauchte Caryl. Er trug ein weißes Kindernachthemd, und sein helles Haar war zerzaust, als komme er gerade aus dem Bett. Er breitete die Arme aus und umschlang sie fest… aber nicht für einen Augenblick wankte der Zauber…
»Oh, Romilly, Romilly. Ich habe meinen Vater angefleht, doch er wollte nicht auf mich hören. Ich kann es nicht ertragen, was sie Orain antun. Es… es tut mir auch weh. Bist du gekommen, um ihn wegzuholen?« Sein Geflüster war beinahe unhörbar. Wenn Lyondri erwachte und die Gedanken seines Sohns suchte, würde er glauben, Caryl habe einen Alptraum. Und Lyondri Hastur hat dies an einem Ort getan, wo sein Sohn es erfahren und mitleiden mußte.
»Er sagte, es würde mich für die Notwendigkeit stählen, manchmal grausam zu sein, wenn das Wohl des Reiches es verlange«, flüsterte Caryl. »Es macht mich… krank.
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