Herrin der Falken - 3
Ich wußte nicht, daß mein Vater dazu fähig wäre.« Er kämpfte gegen die Tränen an, denn sein Weinen würde seinen Vater wecken. Romilly nickte. »Hilf mir, die Hunde ruhig zu halten, wenn ich hineingehe.«
Sie konnte Orain nicht schlafend mitnehmen. Lautlos stahl sie sich an dem Wachposten vorbei.
Der Folterer. Er ist schlimmer als ein Tier, sein Geist ist ein Tiergeist, sonst könnte ich ihn nicht so leicht beherrschen…
»Orain«, flüsterte sie und streckte die Hand aus, um einen unwillkürlichen Aufschrei sofort zu ersticken. Vergiß nicht, du träumst das alles…
Orain wußte sofort, was sie meinte. Falls Lyondri erwachte oder sein Schlaf unruhig wurde, sollte er denken, Orain wandere im Traum umher. So geräuschlos wie Romilly stellte er sich auf die Füße. Einer blutete durch einen flüchtig angelegten Verband. Romilly hatte den abgeschnittenen Finger nicht gesehen, aber sie mußte gegen ihr Entsetzen ankämpfen, mußte den Schlafzauber intakt halten. Orain ging durch den Raum und zwang seine Füße zusammenzuckend in die Stiefel. »Ich würde diesen Mann nicht lebend zurücklassen«, mit unbarmherzigen Haß blickte er auf seinen Gefängniswärter. Sie standen jedoch in einem so engen Rapport, daß er Romillys Gründe dafür erkannte und sich auf einen einzigen schadenfrohen Gedanken beschränkte: Wenn Lyondri aufwacht und feststellt, daß ich geflohen bin, während dieser Mann schlief, wird ihm Schlimmeres widerfahren als ein Dolch durchs Herz. Ich sollte ihn töten! Aber dazu bin ich nicht gütig genug. Der Geruch der Luft sagte Romilly, daß der Morgen nahe war. Bald würde sie sich mit den erwachenden Hunden der ganzen Stadt befassen müssen, mit den Kundschaftervögeln auf der Mauer, und wenn die Tiere nicht zur richtigen Zeit erwachten, alarmierte das ihre Betreuer. Sie mußten die Stadt vorher verlassen haben. Romilly faßte Orains Schulter. Auch seine Hand war umwickelt, und über dem abgeschnittenen Ohr klebte ein durchgeblutetes Pflaster. Aber ernsthaft verletzt war er nicht, und er kam vorsichtig hinter ihr her. Jetzt waren sie vor dem Haus, und Romilly merkte, daß Caryl ihnen in seinem Nachthemd gefolgt war.
»Geh zurück!« flüsterte sie und schüttelte den Jungen an der
Schulter. »Ich kann die Verantwortung nicht…«
»Ich will nicht!« Seine Stimme verriet seine Entschlossenheit.
»Er ist nicht länger mein Vater; ich wäre schlimmer als er,
wenn ich bei ihm bliebe.« Große Tränen rollten lautlos über
sein Gesicht, aber er bestand darauf: »Ich kann dir helfen, die
Wachen ruhig zu halten.«
Romilly nickte und forderte ihn mit einer Geste auf, Orain zu
stützen, der hinkte. Nun mußte sie Schmerz stillen, den Aufruhr seiner Gedanken und Gefühle unter Kontrolle halten
und… ja, sie mußte die Vögel anderswo in der Stadt mit ihren
üblichen Schreien erwachen lassen, während sie die in der
Nähe im Zauberschlaf hielt, bis ihnen irgendwie die Flucht
gelungen war.
Sie erreichten das Seitentor. Caryl legte die Hand auf den
Riegel. Er zerbrach, und das Tor schwang auf. Das gab einen
fürchterlichen Lärm, reißendes Metall und splitterndes Holz
schrien zum Himmel auf. Überall auf der Mauer entstand
Aufruhr. Die Flüchtlinge ließen alle Vorsicht fahren und rannten. Sie rannten durch das Lager und die sich sammelnde
Armee bis zu Carolins Zelt. Dort nahm Carolin seinen Freund
in die Arme und weinte laut vor Erleichterung und Freude.
Romilly drehte sich um und umschlang Caryl.
»Wir sind in Sicherheit, wir sind in Sicherheit – o Caryl, ohne
dich hätten wir es nie geschafft.«
Carolin wandte sich ihnen zu und öffnete seine Arme, um
Romilly und Caryl gleichzeitig mit Orain an sich zu ziehen.
»Horcht!« sagte Orain. »Dieser Lärm – sie haben gemerkt, daß
ich fort bin…«
»Unsere Armee ist hier, dich zu beschützen«, antwortete Carolin. »Wir werden unser Leben dafür einsetzen, daß sie nicht
wieder Hand an dich legen. Aber ich glaube, jetzt werden sie
sich ergeben müssen. Ich will die Stadt meines Volkes nicht
über ihren Köpfen anzünden, sondern jeden Mann verschonen,
der sich mir unterwirft und mir Treue schwört. Rakhal und
Lyondri werden heute morgen wohl wenige Sympathisanten
finden.« Er spürte, daß Orain zusammenzuckte, als Carolins
Arm den Verband über seinem Ohr berührte.
»Mein Bruder, komm, wir wollen deine Wunden versorgen.« Er brachte ihn ins Zelt, und Maura und Jandria nahmen sich
Orains sofort an. Während die Wunden an Hand und Kopf
verbunden
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