Herrin der Falken - 3
Kopf ein und entfloh. Kläglich
dachte sie: Nun weiß ich, was Luciella damit meinte, ich sei
zu groß, um in Hosen herumzulaufen. Ich hätte ebensogut
nackt sein können, so, wie er mich ansah. Ihr ganzes Leben
lang hatte sie die Sachen ihres Bruders getragen, so frei von
Verlegenheit oder Scham, als sei sie auch ein Junge. Jetzt,
unter den wollüstigen Augen des Mannes, kam es ihr vor, als
habe er tatsächlich ihren Körper berührt. Ihre Brüste prickelten, und weiter unten in ihrem Bauch war ein merkwürdiges
ziehendes Gefühl.
Mit hämmerndem Herzen suchte sie Zuflucht in ihrem Zimmer, ging schnell zum Waschständer und bespritzte ihr Gesicht
mit kaltem Wasser, um es abzukühlen
»Luciella hatte recht. Oh, warum hat sie mir das nicht gesagt?“ jammerte Romilly. Dann wurde ihr klar, daß es keine Möglichkeit gab, darüber zu sprechen. Denn wenn man es ihr gesagt
hätte, bevor sie diese Erfahrung machte, hätte sie nur darüber
gelacht. Ihre Hände zitterten immer noch, als sie die Schnüre
der Jungenjacke löste und die Hose fallen ließ. Sie sah in den
Spiegel, und zum ersten Mal in ihrem Leben sah sie ihren
Körper als den einer Frau. Sie war immer noch schlank, ihre
Brüste kaum gerundet, die Hüften kaum stärker geschwungen
als die eines Knaben, und die langen Beine waren wirklich
knabenhaft. Aber, dachte sie, wenn ich jemals wieder Jungenkleidung tragen sollte, werde ich dafür sorgen, daß sie locker
genug sitzt, um mich nicht zu verraten.
Durch die gläserne Verbindungstür zu Mallinas Zimmer sah
sie ihre Schwester ihre Mittsommerkörbe erkunden. Wie Romilly hatte sie drei bekommen. Das lenkte Romillys Gedanken
wieder auf den reichhaltigen Korb ihres Vaters, der mehr Obst
und Süßigkeiten enthielt als Blumen. Der MacAran sah den
Appetit kleiner Mädchen, die ebenso gefräßig sind wie kleine
Jungen, durchaus realistisch. Bei dem kleineren Korb hatte
Romilly gemeint, er sei von Darren. Als sie ihn sich jedoch
genauer ansah, merkte sie, daß er mit künstlerisch geordneten
Garten- und Treibhausblumen gefüllt war. Zwei oder drei
exotische Früchte waren dabei, die er in Nevarsin gekauft
haben mußte, da sie in der Gegend von Falkenhof nicht wuchsen. Dann sah sie die Karte und las überrascht:
Ich habe weder Schwester noch Mutter, denen ich
Mittsommergeschenke machen könnte. Nehmt diese
mit meiner Huldigung entgegen. Alderic, Student.
Mallina platzte ins Zimmer.
»Romy, bist du noch nicht angezogen? Wir dürfen zum Festtagsfrühstück nicht zu spät kommen! Wirst du dein Feiertagskleid anziehen? Calinda ist bei der Mutter, willst du mir mein
Kleid im Rücken zuknöpfen? Was für schöne Blumen, Romy! Meine sind alle Gartenblumen, aber es ist eine schöne Traube
Eisbeeren dabei, süß wie Honig – du weißt doch, in Nevarsin
lassen sie sie wie Rotfrüchte an den Bäumen, bis es friert, und
dann verlieren sie ihre Säure und werden süß. Romy, was
meinst du, wer er ist? Er sieht so romantisch aus – glaubst du,
Dom Alderic wird um eine von uns werben? Ich wäre glücklich,
wenn ich mit ihm verlobt würde, er ist so schön und ritterlich,
ganz wie ein Held aus einem Märchen.«
»Was bist du für eine törichte Plaudertasche, Mally«, sagte
Romilly, doch sie lächelte. »Ich glaube, daß er ein aufmerksamer Gast ist, mehr nicht. Bestimmt hat er Mutter einen ebenso
schönen Korb geschickt.«
»Domna Luciella wird keine Freude daran haben«, erklärte
Mallina. »Sie hält das Mittsommerfest für eine heidnische
Angelegenheit, die eines guten Cristofero nicht würdig ist. Sie
hat mit Calinda geschimpft, weil sie Rael Festkörbe hat basteln
lassen. Vater sagte jedoch, jeder verdiene einen Feiertag, und
ein Vorwand sei so gut wie ein anderer, um den Gutsarbeitern
einen Tag der Muße und ein paar wohlverdiente Geschenke zu
bescheren, und sie solle Rael die Freude am Fest gönnen,
solange er noch ein Kind sei. Aus ihm werde schon noch ein
guter Cristofero, er sei ein braver Junge und ehre das Buch der
Bürden.«
Romilly lächelte. »Das hat Vater jedes Jahr gesagt, seit ich mich
erinnern kann. Und ich bin sicher, er mag Gewürzbrot und
süßen Safrankuchen und Obst genausogern wie jeder andere.
Er zitiert dann aus dem Buch der Bürden, dem Tier solle sein
Korn und dem Arbeiter sein Lohn und sein freier Tag nicht
mißgönnt werden. Vater mag ein harter Mann sein, aber er ist
immer gerecht zu seinen Arbeitern.« Romilly schloß den letzten Knopf und drehte ihre Schwester zu sich herum. »Wie fein
du bist,
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