Herrin der Falken
es nicht unrecht, ein lebendes Wesen mit einem toten zu füttern. Am liebsten hätte Romilly ihre neue Fähigkeit irgendwo eingeschlossen, damit sie niemals mehr berührt werden konnte. Aber sie brauchte sie im Umgang mit den Vögeln – es konnte doch nicht falsch sein, ihnen ihre Liebe zu zeigen? Oder doch, da sie sie mit dieser Methode ihrer eigenen Bequemlichkeit wegen ruhig hielt?
Mehrmals versuchte sie, mit den Vögeln zu arbeiten, ohne von der MacAran-Gabe, die sie jetzt als Laran kannte, Gebrauch zu machen. Dann schrien und rebellierten sie, und Dom Carlo fragte: »Was ist in dich gefahren, Junge? Tu die Arbeit, für die du bezahlt wirst, und bring diese Vögel zum Schweigen!« Also wendete sie ihr Laran an und litt von neuem unter Zweifeln, ob sie recht oder unrecht tue.
Gern hätte sie mit Dom Carlo darüber gesprochen. Er hatte Laran, und vielleicht hatte er sich mit den gleichen Problemen herumgeschlagen, als er in ihrem Alter war und es zu benutzen lernte. War es das, was Ruyven hatte bezwingen müssen? Kein Wunder, daß er von einer Pferderanch geflohen war und Zuflucht hinter den Mauern eines Turms gesucht hatte! Manch mal beneidete sie Darren, auf den nichts von der MacAran-Gabe gekommen war. Wenn er Falken und Pferde auch fürchtete und haßte, geriet er doch wenigstens nicht in Versuchung, an ihrem Geist herumzupfuschen, um seine Macht über sie zu beweisen! Mit Caryl konnte sie nicht reden. Er war noch ein Kind und gebrauchte seine Macht mit Vergnügen, wie sie es getan hatte, als sie ihre glückliche Hand für das Ausbilden von Pferden entdeckte. Und immer, wenn sie versuchte, frisch getötetes Wild zu essen, hatte sie die Vorstellung, Leben und Blut des toten Tiers drängen in ihre Gedanken ein. Dann würgte sie und weigerte sich zu essen. Sie bereitete sich Mahlzeiten aus Brei und Obst und Brot und litt in der bitteren Kälte der Berge schrecklichen Hunger. Doch selbst als Dom Carlo ihr befahl zu essen, konnte sie es nicht. Einmal blieb er vor ihr stehen, bis sie widerstrebend ein Stück von einem wilden Chervine hinunterschluckte. Dann überkam sie ein solcher Ekel, daß sie zur Seite ging und sich erbrach.
Orain sah sie aus dem Dickicht zurückkommen, bleich und zitternd. Als sie mit bebenden Händen Abfälle und Reste des Chervines für die Kundschaftervögel zerschnitt, trat er zu ihr. In diesem Schneeland war es schwierig, Steinchen zu finden, und so mußte sie Haut und Knochenstücke mit dem Fleisch mischen, damit die Vögel es verdauen konnten. Orain sagte: »Gib das mir«, und trug das blutige Zeug zu den Vögeln hinüber, die auf ihren Blöcken in sicherer Höhe über dem Schnee saßen. Er kehrte zurück, während sie kröpften, und fragte: »Was ist los mit dir, Junge? Das Essen widersteht dir, wie? Carlo meint es gut, weißt du. Er machte sich nur Sorgen, daß du für dieses rauhe Klima nicht genug ißt.«
»Das weiß ich.« Romilly sah ihn nicht an.
»Was fehlt dir denn, Rumal? Kann ich dir nicht helfen?«
Sie schüttelte den Kopf. Niemand konnte ihr helfen. Sie wünschte sich, mit ihrem Vater zu sprechen. Er mußte in seiner Jugend den gleichen Kampf durchgestanden haben, denn wie hätte er sonst seine Gabe meistern gelernt? Er haßte das Wort Laran, und man durfte es in seiner Gegenwart nicht aussprechen. Aber er besaß das Talent, ganz gleich, wie er es nannte oder nicht nannte. Plötzlich von Heimweh überwältigt, dachte sie an Falkenhof, an das Gesicht ihres Vaters, freundlich und liebevoll, und dann an das verzerrte, wütende Gesicht, als er sie schlug… Sie verbarg das Gesicht in den Händen und kämpfte verzweifelt darum, das Schluchzen zu unterdrücken, das sie als Mädchen verraten mußte. So müde war sie, so müde, sie konnte die Tränen kaum zurückhalten…
Orains Hand legte sich sanft auf ihre Schulter. »Nun, nun, Sohn, das macht doch nichts – ich bin keiner, der Tränen für unmännlich hält. Du bist krank und müde, das ist alles. Heul nur, wenn du möchtest, ich werde es nicht weitererzählen.« Er klopfte ihr ermutigend auf die Schulter, ging zum Feuer und kehrte zurück. »Hier, trink das, es wird deinen Magen beruhigen.“ Er warf ein paar seiner geliebten Kräuter in einen Becher mit heißem Wasser und drückte ihn ihr in die Hand. Das Getränk war aromatisch, von einer angenehmen schwachen Bitterkeit, und es ging ihr danach tatsächlich besser. »Wenn du im Augenblick kein Fleisch essen kannst, bringe ich dir Brot und Obst, aber hungern
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