Herrin der Falken
Vorsehung sie geführt hatte, ihr Bestes tun. Lastenträger, hilf mir, meine Bürde zu tragen, wie du das Gewicht der Welt trägst! Und dann wunderte sie sich über sich selbst. Sie erinnerte sich nicht, früher viel über das Gebet nachgedacht zu haben, und jetzt suchte sie dauernd bei solchen kleinen Gebeten Zuflucht. Ob es das ist, was das Buch der Bürden Dhe shaya, eine Gnade Gottes, nennt, oder ist es nur eine Art von Schwäche, die aus der Einsamkeit geborene Vorstellung, daß ich niemand anders habe, an den ich mich wenden kann? Jandria war ihre Freundin, aber sie teilte ihre Ängste nicht. Das Leben in der Schwesternschaft gefiel ihr, und sie entsetzte sich nicht bei dem bloßen Gedanken an Kriege und Schlachten. Dinge wie das vom Knochenwasser-Staub verseuchte Dorf riefen bei ihr Zorn und Entrüstung hervor, und doch erschütterten sie sie nicht auf diese Weise. Janni schien ganz frei von solchen persönlichen Ängsten zu sein!
Im Dunkeln ritten sie in die Stadt ein. Es ging die merkwürdig breite Straße hinunter, vorbei an alten Häusern aus gebleichtem Stein, die im Mondlicht blaß schimmerten. Romilly schlief fast im Sattel und verließ sich auf ihr sicher dahintrottendes Chervine. Sie wurde ein bißchen wach, als Jandria vor einem großen Torbogen haltmachte und an einem Glockenstrang zog.
Das Läuten war drinnen weit entfernt zu hören. Nach einer Weile fragte eine müde Stimme: »Wer ist da?«
»Zwei Frauen der Schwesternschaft, von Hali kommend«, rief Janni. »Jandria, Schwertfrau, und Romilly, Schwertfrau-Lehrling, eidgebunden. Wir suchen Obdach hier.«
Die Tür öffnete sich quietschend. Eine Frau lugte auf die Straße hinaus.
»Kommt herein, Schwestern«, sagte sie. »Bringt die Tiere in den Stall dort. Wenn ihr möchtet, könnt ihr ihnen Futter vorwerfen. Wir sind alle beim Abendessen.« Sie wies auf einen Stall innerhalb der Ummauerung. Sie stiegen ab und führten die müden Tiere hinein. Romilly blinzelte in das schwache Laternenlicht. Der Raum war nicht groß, aber die beiden Pferche an der Rückwand waren gedrängt voll von Pferden, und darunter solche von edelster Rasse. Was war das für ein Haus, und warum zwängte man so viele Pferde in einen so kleinen Stall? Romilly war voll von Fragen, aber zu schüchtern, um auch nur eine davon zu stellen. Sie brachte ihr Chervine in eine der kleineren Boxen und Jandrias Pferd in eine andere, schulterte ihren Packen und folgte der fremden Frau ins Haus.
Es roch gut nach frischgebackenem Brot und nach einem fremdartig gewürzten gekochten Gericht. In einem langen Saal gleich hinter der Eingangshalle, wo sie ihre Bündel abgelegt hatten, saßen an zwei langen Tischen dicht bei dicht wohl vier oder fünf Dutzend Frauen. Das Klappern von Geschirr und die lauten Gespräche von einem Tisch zum anderen und von einem Ende des Raums zum anderen erzeugten einen solchen Lärm, daß Romilly unwillkürlich zusammenzuckte. Nach der Stille in Wald und Wildnis machte das Getöse sie beinahe taub.
»Da unten sind noch zwei Plätze frei«, sagte die Frau, die sie eingelassen hatte. »Ich bin Tina. Nach dem Abendessen bringe ich euch zur Hausmutter, und sie kann irgendwo Betten für euch auftreiben. Wir sind ein bißchen überfüllt, wie ihr seht. Anscheinend hat man die Hälfte der Schwesternschaft bei uns einquartiert, wobei ich hinzufügen muß, daß man uns auch Armee-Rationen geschickt hat, um sie zu ernähren. Andernfalls müßten wir alle von den Nüssen des letzten Jahres leben! Setzt euch und eßt – ihr müßt hungrig sein nach diesem langen Ritt.«
Es sah gar nicht so aus, als sei an dem bezeichneten Tisch noch der geringste Platz. Aber Jandria entdeckte eine Stelle, wo die Frauen nicht ganz so eng saßen, und mit Hilfe von ein bißchen freundschaftlichem Drängeln quetschten sie sich mit auf die Bank. Eine Frau, die mit einem Krug und einem Schöpflöffel um die Tische die Runde machte, tat ihnen Suppe in ihre Näpfe und zeigte auf einen angeschnittenen Laib Brot. Romilly zog das Messer aus dem Gürtel und säbelte zwei dicke Scheiben ab. Die Frau, die neben ihr eingezwängt war – ein gutmütiges Mädchen mit Sommersprossen und dunklem Haar, das im Nacken zusammengebunden war – schob ihr einen Topf mit einem Fruchtaufstrich zu. »Butter ist im Augenblick knapp, aber das hier schmeckt recht gut auf dem Brot. Laß den Löffel im Topf.«
Der Aufstrich schmeckte wie gewürzte Äpfel, die zu einer Paste eingekocht sind. Die Suppe enthielt
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