Herrin der Falken
nicht identifizierbare Fleischstücke und unbekannte Gemüse. Romilly hatte Hunger und aß, ohne sich viel darum zu kümmern, was es war.
Als sie mit der Suppe fertig war, sagte ihre Nachbarin: »Mein Name ist Ysabet; die meisten Leute nennen mich Betta. Ich bin von unserm Haus in Thendara hergekommen. Und ihr?«
»Wir waren in Hali und davor in Caer Donn«, antwortete Romilly. Betta machte große Augen. »Wohin der König geflohen ist? Habt ihr seine Armee gesehen?«
Romilly nickte. Sie dachte an Orain und ein Banner auf einer fremden Straße.
»Carolin lagert nördlich von Serrais«, erzählte Betta, »und bevor Schnee fällt, will er auf Hali marschieren. Das Lager ist voll von Gerüchten, doch dies wird am nachdrücklichsten behauptet. Auf welchem Gebiet arbeitest du?«
Romilly schüttelte den Kopf. »Auf keinem besonderen. Ich trainiere Pferde und manchmal Falken, und ich habe für Kundschaftervögel gesorgt.«
»Uns wurde gesagt, es käme eine Expertin für das Trainieren von Pferden aus Hali!« rief Betta. »Das mußt du sein, wenn es nicht deine Freundin ist – wie heißt sie?«
»Das ist Jandria«, gab Romilly Auskunft. Betta staunte.
»Lady Jandria! Von ihr habe ich gehört, wenn es die ist, die eine Cousine Carolins sein soll. Ich weiß, wir sollen nicht an den Rang denken, aber ich sehe, daß sie rote Haare und ein Hastur-Gesicht hat. Also, es hieß, aus Hali kämen eine Schwertfrau und eine erfahrene Pferdetrainerin. Die brauchen wir auch, hast du all die Pferde im Stall gesehen? Und noch viel mehr sind in der Koppel, und sie wurden von dem Alton-Land in den Kilghardbergen ausgehoben… und nun müssen sie für Carolins Armee eingebrochen werden, damit die Schwesternschaft auf ihnen in die Schlacht reiten kann… für Carolin, unsern wahren König…« Sie musterte Romilly forschend. »Du bist doch für Carolin, oder?«
»Ich bin von vor Sonnenaufgang bis nach Dunkelwerden geritten, heute und die letzten sieben Tage«, erwiderte Romilly. »Inzwischen weiß ich kaum noch meinen eigenen Namen, ganz zu schweigen von dem eines Königs.« Es kam ihr sehr heiß in dem Saal vor, und sie hatte Mühe, die Augen offenzuhalten. Dann dachte sie daran, daß sie geflohen waren, um einer möglichen Verfolgung durch Lyondri Hastur zu entgehen, und sie setzte hinzu: »Ja, wir sind für Carolin.«
»Die halbe Schwesternschaft scheint bei uns einquartiert worden zu sein«, meinte Betta wie vorhin Tina, »und es wird viel geredet. Vor zwei Tagen mußten Frauen hier auf den Tischen und sogar unter den Tischen schlafen, und dabei haben wir, die wir im Haus leben, uns zu zweit ein Bett geteilt und die freien Betten den Neuankömmlingen gegeben.«
»Ich habe oft genug auf der Erde geschlafen«, sagte Romilly.
»Der Fußboden genügt mir.« Wenigstens war sie dann unter einem Dach und aus dem Regen heraus. »Oh, ich bin sicher, für Lady Jandria wird man irgendwo ein Bett auftreiben«, bemerkte Betty. »Bist du ihre Liebhaberin?«
Romilly war zu müde und zu verwirrt, um ganz zu verstehen, was Betta meinte. »Nein, nein, gewiß nicht.« Die Frage war jedoch gar nicht so unberechtigt. Warum wählte ein Mädchen das Leben einer Schwertfrau, wenn es ebensogut heiraten konnte? Seit Romilly der Schwesternschaft angehörte, hatte sie sich ein-oder zweimal gefragt, ob ihr Widerwille gegen eine Heirat bedeute, daß sie im Grunde eine Liebhaberin von Frauen sei. Sie fand die Vorstellung nicht schockierend, aber sie hatte auch keine besondere Anziehungskraft für sie. So sehr ihr Jandria in diesen Tagen ans Herz gewachsen war, wäre es ihr doch nie in den Sinn gekommen, sich zu ihr zu legen wie zu Orain. Jetzt war ihre Aufmerksamkeit mit Gewalt wieder auf dies Thema gelenkt worden, und sie dachte von neuem darüber nach. Ist das die Ursache, warum ich nie wirklich einen Mann gewollt habe, und war es sogar mit Orain eine Sache der Sympathie und Freundschaft, aber kein echtes Begehren?
Ich bin so müde, daß ich über nichts mehr klar nachdenken kann, und erst recht nicht über etwas so Wichtiges! Eines Tages würde sie darüber nachdenken müssen, besonders dann, wenn sie ihr Leben in der Schwesternschaft zu verbringen gedachte.
Einzeln oder in kleinen Gruppen von dreien und vieren verließen die Frauen der Schwesternschaft den Tisch und suchten ihre verschiedenen Betten auf. Deckenrollen, die in einer Ecke des Saals aufgestapelt waren, wurden auf dem Fußboden ausgebreitet, wobei es ein bißchen harmlosen Streit um die
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