Herrin Der Stürme - 2
sagte Barak. »Ich glaube nicht, daß er um den Erhalt seiner Krone kämpfen wird – Eier können gegen Steine nichts ausrichten.«
»Nun, er ist einigermaßen sicher, solange der alte König lebt«, warf Coryn ein. »Aber danach ist es nur eine Frage der Zeit, bis er herausgefordert und öffentlich vorgeführt wird. Wen, frage ich mich, haben sie bestochen, um ihn als ersten Erben zu benennen? Aber vielleicht hast du Glück gehabt, Allart, denn dein Bruder braucht deine Unterstützung dringend genug, daß er eine Frau für dich wählte, die in der Tat liebenswürdig und einnehmend ist.«
»Ich glaubte sie noch vor einem Augenblick gesehen zu haben«, sagte der andere Bewahrer, »aber jetzt ist sie fort.«
Allart blickte suchend umher. Er war plötzlich von einer namenlosen Angst erfüllt. Eine Gruppe jüngerer Frauen des Turms tanzte am anderen Ende des langen Raums; er hatte sie unter ihnen vermutet. Erneut sah er sie tot in seinen Armen liegen … und verscheuchte das Bild als eine Illusion, die seiner Angst und geistigen Unruhe entsprang. »Vielleicht ist sie wieder auf ihr Zimmer gegangen. Renata hat ihr empfohlen, das Bett zu hüten, denn sie fühlte sich nicht wohl. Ich war überrascht, daß sie überhaupt heruntergekommen ist.«
»Aber in ihrem Zimmer ist sie nicht«, sagte Renata, die sich ihnen näherte. Allarts Gedanken aufgreifend wurde sie blaß. »Wo kann sie hingegangen sein, Allart? Ich bin hinaufgegangen, sie zu fragen, ob ich sie als Überwacherin einweisen solle, aber sie ist überhaupt nicht im Turm.«
»Gnädiger Avarra!« Plötzlich brachen die sich verzweigenden Zukunftsmöglichkeiten wieder über ihn herein, und Allart wußte, wohin Cassandra gegangen war. Ohne ein Wort der Erklärung wandte er sich von den Männern ab, eilte hinaus, ging durch Hallen und Flure und verließ durch das Kraftfeld den Turm.
Die Sonne, eine große rote Kugel, hing wie Feuer auf den fernen Hügeln und bedeckte den See mit Flammen.
Sie hat mich bei Renata gesehen. Ich wollte ihre Hand nicht berühren, obwohl sie weinte – aber Renata habe ich vor ihren Augen geküßt. Es war rein freundschaftlich gemeint, wie man einer Schwester gegenüber zärtlich ist, und nur, weil ich Renata ohne diese Qual aus Liebe und Schuld berühren kann. Cassandra hat zugesehen, aber nichts verstanden …
Er rief Cassandras Namen, bekam aber außer den weichen, plätschernden Lauten des Wolkenwassers keine Antwort. Allart warf den Umhang ab und fing an zu laufen. Am äußersten Rand des Ufersandes sah er zwei kleine, hochhackige Sandalen, blau gefärbt. Cassandra hatte sie nicht achtlos ausgezogen, sondern mit äußerster Gewissenhaftigkeit nebeneinander gestellt, als sei sie zaudernd hier niedergekniet. Allart zog hastig seine Stiefel aus und rannte in den See hinein.
Die merkwürdigen Wolkenwasser hüllten ihn trübe und fremdartig ein. Das dichte, neblige Gefühl umgab ihn. Er atmete, spürte die merkwürdige anregende Wirkung und konnte ziemlich deutlich sehen, wie durch den dünnen Nebel glänzende Gestalten – Fische oder Vögel? – an ihm vorbeiglitten. Das schimmernde Orange und Grün ähnelte keiner Farbe, die er je gesehen hatte, außer den Lichtern hinter seinen Augen, wenn er eine Dosis der telepathischen Droge Kirian eingenommen hatte, die das Gehirn öffnete … Allart spürte, wie leicht sich seine Füße auf dem pflanzenbewachsenen Grund bewegten, als er anfing, durch den See zu laufen.
Irgend etwas war hier vorbeigekommen, ganz sicher. Die Fischvögel sammelten sich in Gruppen, die in den Wolkenströmen umhertrieben. Allart spürte, wie seine Füße langsamer wurden. Das schwere Gas fing nun an, ihn zu bedrücken. Er sandte einen verzweifelten Schrei aus: »Cassandra!« Aber die Wolke schien keinen Laut weiterzuleiten. Es war wie auf dem Grund eines tiefen Brunnens, dessen Stille ihn verschlang. Selbst in Nevarsin hatte er solche Ruhe nie erfahren. Lautlos trieben die Fisch-Vögel an ihm vorbei. Ihre leuchtenden Farben erzeugten in seinem Gehirn Reflexionen. Er war benommen, fühlte sich schwindlig. Er zwang sich zu atmen, als ihm einfiel, daß in dieser seltsamen Wolke das Element, das den Atemreflex in seinem Gehirn auslöste, nicht vorhanden war. Er mußte mit Mühe und Willenskraft Luft holen.
»Cassandra!«
Ein schwaches, fernes Flackern …
»Geh weg …« Und schon war es wieder fort.
Atmen! Allart begann zu ermüden. Die Pflanzen wuchsen hier tiefer und dichter, und er mußte sich seinen Weg durch sie
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