Herrin des Blutes - Thriller
schleuderte, die ihn nur knapp verfehlte, ehe sie an der Wohnzimmerwand zerschellte. Anschließend verprügelte sie ihn. Damit war ihre Beziehung zu Ende gewesen. Sie war gleich am nächsten Tag ausgezogen und nicht mehr zurückgekehrt.
Tränen brannten in Dreams Augen, und sie war froh, dass der Regen sie kaschierte. Eine rasche Bewegung zu ihrer Rechten riss sie aus dem schmerzhaften Tagtraum. Wieder das Mädchen im gelben Regenmantel. Nur dass sie diesmal näher stand als zuvor. Die Distanz zwischen ihnen hatte sich beinahe auf die Hälfte reduziert. Der Regenmantel flatterte im Wind, und die Kapuze war ein Stück nach hinten gerutscht und offenbarte einige durchnässte blonde Strähnen. Die Augen des Mädchens besaßen die Farbe von leuchtendem Blau und glänzten selbst in der Dunkelheit. Ein hübsches junges Ding, das man beinahe bezaubernd nennen konnte, wären da nicht ihr heimtückisches Grinsen und das seltsame spöttische Gelächter gewesen, das Dream nun tatsächlich hören konnte, wie sie beunruhigt registrierte.
Dreams Blick schweifte ab und suchte nach Anzeichen für die Eltern des Kindes, aber es hielt sich niemand in der Nähe auf, der für diese Rolle infrage kam. Sie erkannte zwar noch einige weitere Besucher, aber es handelte sich größtenteils um dunkle, undeutliche Silhouetten in der Dämmerung. Zudem würde kein Elternteil, der einigermaßen bei Verstand war, ein kleines Kind an einem Ort wie der Rainbow Bridge auch nur eine Sekunde lang aus den Augen lassen. Dream wollte nicht glauben, dass das Mädchen nur eine weitere Illusion oder magische Kreation war, aber das Gefühl ließ sie nicht los. Der Gedanke, dass sie ihre eigene Kraft nur so unzureichend kontrollieren konnte, jagte Dream entsetzliche Angst ein.
Zudem stellte sich eine ganz andere Frage: Aus welcher verborgenen Ecke in Dreams Psyche war das Mädchen aufgetaucht? Auf den ersten Blick kam ihr die Kleine überhaupt nicht bekannt vor. Von ihren blonden Haaren abgesehen, sah sie Dream als junges Mädchen nicht sonderlich ähnlich. Und sie ähnelte auch keiner ihrer Freundinnen aus Kindertagen, an die sie sich erinnerte. Dann blitzte eine Erkenntnis auf, die so eindeutig und überzeugend wirkte, dass sie gar nicht anders konnte, als daran zu glauben. Vielleicht entsprach das Mädchen Dreams unbewusster Vorstellung davon, wie ihre eigene Tochter aussehen würde. Schließlich war sie eine Frau, und vielleicht lauerte irgendwo auf einer primitiven Ebene eine unerfüllte Sehnsucht, ein biologischer Drang, der in Verbindung mit dem, was Marcy als »übernatürlichen Fluch« bezeichnet hatte, diese grinsende Erscheinung hervorgebracht hatte.
Das Mädchen, das Dream nach wie vor anvisierte, lachte noch lauter, und ihr kleiner Körper wurde von diesem heftigen Heiterkeitsausbruch regelrecht durchgeschüttelt.
Dream erschauderte und wich einen Schritt zurück.
Das Mädchen näherte sich ihr erneut und war nur noch gut drei Meter von ihr entfernt. Dream hatte die Bewegung überhaupt nicht wahrgenommen. Als schrumpfe die körperliche Entfernung zwischen ihnen von alleine, als zöge sich die Materie der Existenz zurück oder löse sich vollständig auf, um sie einander näherzubringen – was natürlich vollkommen verrückt und absolut unmöglich war. Aber Dream hatte schon zu viel gesehen und erlebt, um etwas abzulehnen, nur weil es keine rationale Erklärung dafür gab.
Sie trat einen weiteren Schritt zurück und sagte: »Bleib weg.« Sie stieß mit Marcy zusammen, und ihre Stimme wurde schriller, als die Tränen ungehemmt über ihre Wangen strömten. »Bleib verdammt noch mal von mir weg! Lass mich in Ruhe!«
Marcy wich mit einem erschrockenen Laut zur Seite und fragte: »Mit wem redest du, Dream?«
Das kleine Mädchen war höchstens noch zwei Meter entfernt und sah ihr direkt in die Augen. Sie hob eine Hand und deutete mit ihrem schlanken Zeigefinger auf Dream. Der blasse Finger verbreitete in der Dunkelheit eine geisterhafte Wirkung, als wäre er nur halb geformt oder unvollständig. Dieser Eindruck, gepaart mit Marcys Frage, setzte die kommenden Geschehnisse in Gang.
Dream beendete ihren Rückzug. Die überbordende Furcht in ihr wuchs weiter an und drohte sich zu einem Inferno auszuweiten, das auch den letzten kläglichen Rest ihrer geistigen Gesundheit verbrannte. Aber da war auch noch eine andere Regung in ihr. Wut. Roher, brennender Hass. Hass auf den Teil von ihr, den sie nicht kontrollieren konnte. Und von dem sie
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