Herrin des Blutes - Thriller
gefliesten Boden. Dieses stille Örtchen war ein Drecksloch, aber in ihren eineinhalb Monaten auf der Flucht hatte sie sich an unhygienische Bedingungen wie diese gewöhnt. Man konnte nun mal schlecht im Hyatt absteigen, wenn man unerkannt reisen wollte.
Als sie die Toilette kurze Zeit später verließ, wartete Alicia vor der Tür auf sie und verlagerte ihr Gewicht ungeduldig von einem Bein aufs andere. Sie funkelte Marcy an, als diese an ihr vorbeirauschte. »Was hast du denn da drin gemacht? Die beschissenen Kacheln gezählt?«
Dann war sie verschwunden und die graue Metalltür hinter ihr zugeknallt. Marcy seufzte und schüttelte den Kopf, als sie über den Parkplatz auf den alten Lieferwagen zusteuerte. Alicias fortschreitende Entwicklung von einer missgebildeten wandelnden Leiche zu einer voll funktionstüchtigen, lebendigen Frau empfand sie nach wie vor als unheimlich. Die ehemals tote Frau hatte wochenlang weder etwas zu essen noch zu trinken benötigt. Mit zunehmender »Heilung« stellten sich auch ihre normalen menschlichen Bedürfnisse wieder ein. Anfangs hatte sie nur an Pommes frites geknabbert und an den Colas aus den Fast-Food-Läden genippt. Aber inzwischen verschlang sie komplette Mahlzeiten und soff becherweise Wodka Red Bull, wie eine billige Hure aus einem Nachtclub. Von ihrer leichenhaften Erscheinung kündeten nur noch wenige Merkmale. Direkt über ihrem Schlüsselbein prangte eine verblasste kleine Narbe, aber Marcy nahm an, dass auch diese bald verschwunden sein würde.
Sie kletterte durch die geöffnete Seitentür des Lieferwagens und ließ sich neben Dream auf den Sitz gleiten, die auf der anderen Seite neben dem Fenster zusammengesunken war. Sie hielt eine Flasche billigen Wein in den Händen, die sie fest an ihre Brust drückte. Ihre Augen waren blutunterlaufen und der Alkoholgeruch haftete wie eine zweite Haut an ihr. Sie lächelte schwach, als sie Marcy neben sich erkannte. »Hey, Kleine.« Sie bot ihr den Wein an. »Trink einen Schluck.«
Marcy nahm die Flasche aus Dreams zitternden Händen entgegen und setzte sie an ihre Lippen. Sie legte den Kopf in den Nacken und ließ die lauwarme Flüssigkeit die Kehle hinabfließen. Dann gab sie Dream den Wein zurück und wischte sich den Mund ab. »Danke.«
Dream trank ebenfalls einen Schluck und lehnte ihren Kopf wieder gegen das Fenster. Sie blickte auf den grauen Himmel und die Autos, die auf der nassen Straße über den Parkplatz der Tankstelle an ihnen vorbeirollten. »Wo sind wir jetzt?«
»Wieder in New York. In der Nähe von Rochester.«
Dream schnaubte. »Wir sollten nach Süden fahren.«
»Da kommst du her, oder?«
Dream nickte, ohne ihren Blick von der trostlosen Aussicht abzuwenden. »Ja. Aus good old Tennessee. Aber irgendwo anders im Süden wäre mir auch recht. Hier ist es die ganze Zeit über so beschissen kalt und dunkel. Einfach scheußlich!« In ihrer Stimme schwang Melancholie mit. So klang sie in letzter Zeit immer. »Ich will irgendwohin, wo ich die Wärme der Sonne auf meiner Haut spüren kann. Mir fehlt der Duft von Blumen und …«
Marcy beobachtete, wie sich Dreams Augen mit einem Flackern schlossen, während ihre Stimme langsam erstarb. Vorsichtig nahm sie der Freundin die Weinflasche aus den erschlafften Fingern, damit sie nicht auf den Boden polterte. Das Innere des Lieferwagens roch ohnehin schon wie nach einem Erdbeben im Schnapsladen. Sie setzte die Flasche erneut an den Mund und trank einen großen Schluck, während sie Dream beobachtete. Wenn sie schlief, war sie sogar noch schöner. Im Schlaf schienen die Dämonen, die sie quälten, nicht so präsent zu sein.
In diesen Momenten hatte Marcy immer das Gefühl, Dream so zu sehen, wie sie vor vielen Jahren aussah, bevor sich ihr Leben in eine fortwährende Horrorshow verwandelte. Sie versuchte, sich Dream mit längeren blonden Haaren vorzustellen, so wie auf den Fotos in den Zeitungen, an die sie sich erinnerte. Die Vorstellung fiel ihr nicht schwer, und ein Teil von ihr verspürte ein schmerzliches Mitgefühl für Dream und all das, was sie verloren hatte. Ja, sie war immer noch hübsch, aber härter als früher, und diese Härte spiegelte sich in den Falten um ihre Augen und Mundwinkel wider. Das Leben hatte seinen Tribut gefordert.
»Ist sie schon wieder weggetreten?«
Marcy beobachtete, wie sich Dreams Brustkorb langsam hob und senkte. »Ja.« Sie streckte die Hand mit der Flasche in Richtung Vordersitz aus. »Willst du ’nen Schluck?«
Ellen hatte
Weitere Kostenlose Bücher