Herrin wider Willen
sie.
Gereizt lehnte er sich zurück und streckte das Bein aus. »Deswegen bin ich Seefahrer geworden. Weil mich das Reisen zu Land so ärgert. Ich hätte nie damit anfangen sollen.«
Ada sah erstaunt auf. »Seefahrer?«
»Fernhandelsagent. Das bin ich, falls es sich dir noch nicht erschlossen hat. Eine interessante und lohnende Tätigkeit. Es war völlig unsinnig von meinem Vater zu erwarten, dass ich auf Wenthe ansässig werde. Das öde Stück Erde ist kein Teil meiner Welt. Schon gar nicht in diesen Zeiten. Wer freiwillig in diesem vom Krieg zerfressenen Wrack von Land lebt, ist klüffelwitzig.«
Ada lachte kurz und unfroh. »Du zeigst eine große Verachtung für die Menschen hier. Dabei bleibt den meisten nichts anderes übrig. Außerdem bleibt man doch in der Heimat. Ich würde schon in Kölln die Sprache nicht mehr verstehen.«
»Ich habe bereits als Kind vier Sprachen erlernt. So dumm kommst du mir nicht vor, dass du nicht wenigstens noch eine lernen könntest.«
»Ich fürchte, da irrst du dich. Aber das ist ja gleichgültig. Ich werde das Land nicht verlassen, nicht wahr?«
Ada wartete mit klopfendem Herzen, aber er erwiderte nichts darauf. Stattdessen nahm er eines der Bücher zur Hand und schlug es auf. Es war das von dem Italiener, Boccacio.
Mit einem stummen Seufzen beugte sie sich wieder über die Truhe. Es war schwierig, auf so engem Raum mit ihm zusammen zu sein, seit er wach war. Er strahlte etwas aus, das sie fahrig und ungeschickt machte. Ständig hatte sie das Bedürfnis, ihn anzusehen, um zu verstehen, was sie so verwirrte. Sie musste sich zusammennehmen, um normal zu wirken.
Andererseits schien es ihm ähnlich zu gehen, denn er hatte auch nicht aufgehört, sie verstohlen zu beobachten. Nur in diesem Moment tat er es nicht, er hatte seine Brille auf die Nase geklemmt und sich in das Buch vertieft. Ein leichtes Lächeln lag auf seinen Lippen. Lippen, mit denen er über ihren Bauch gereist war in jener Nacht, als es kein morgen für ihn gegeben hatte.
Ada wurde heiß, sie zwang sich an ihre Aufgabe zurück. Ein kleiner Ballen weiße Klöppelspitze. Das Richtige für eine feine Haube. Eine weitere Holzschachtel, in die sie hineinsah. Weiße und schwarze Spielsteine aus Holz lagen darin, die Linien für das Spielbrett waren auf der Außenseite der Schachtel aufgezeichnet, aber an einigen Stellen abgeschabt. Zwischen den Holzscheiben lagen vier Schiffchen und ihre kleinen Masten, die man aus den für sie vorgesehenen Löchern gezogen hatte. Die Schiffe waren bemalt gewesen, doch von den Farben war wenig übrig. Ebenso schäbig war das letzte Teil. Ada nahm es heraus, es war kleiner als ihre Handfläche. Ein Schaukelpferd mit einem Ritter darauf, der einmal ein Schwert in der Hand gehalten hatte, von dem nur noch der Griff da war. Leimreste an Hals und Hinterteil des Tieres deuteten darauf hin, dass es Mähne und Schweif aus echten Haaren gehabt hatte. Ein liebevoll gemachtes Spielzeug.
»Das war meins. Die Schiffe gehörten zuerst meinem Bruder. Bis er gestorben ist.« Lenz hatte nur kurz aufgeblickt und sich dann wieder dem Buch gewidmet.
»Wie alt ist er geworden?«
»Neun Jahre. Ein Jahr nach seinem Tod haben meine Eltern mich nach England geschickt. Ich war sechs Jahre alt.«
»Und deine Mutter?«
»Starb ein Jahr später. 1620.«
Ada legte das Pferdchen behutsam zurück in die Schachtel. Menschen verloren Kinder. Viele Mütter verloren mehr, als sie aufwachsen sahen. Dennoch, der Blick auf die paar abgegriffenen Spielzeuge ließ Ada mit der unbekannten Toten schmerzhaft mitfühlen. Wie konnten die Eltern es übers Herz gebracht haben, den zweiten Sohn fortzuschicken, nachdem ihnen schon der erste genommen worden war? Vielleicht war Lenz’ Mutter vor Kummer gestorben. »Die Sachen sind sehr hübsch«, sagte sie leise.
Lenz klappte das Buch zu und legte es mit einem kleinen Knall auf den Tisch, oben darauf die Brille. »Wir haben sie nicht von unseren Eltern bekommen. Ein Freund der Familie hat sie uns geschenkt. Der Bruder von Christophers Mutter. Er war es auch, der mich von Wenthe abgeholt und nach Bristol gebracht hat. Ein großzügiger, freundlicher Mann, soweit ich mich erinnere. Leider ist er noch im selben Jahr ums Leben gekommen. Sein Schiff sank.«
»Es klingt, als hättest du an deine Eltern keine guten Erinnerungen.«
Mit einem Ruck stand er auf. »Ich habe an meine Mutter kaum Erinnerungen. Und wenn ich eine gute Erinnerung an meinen Vater hätte, würde sie nicht
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