Herrin wider Willen
Gott kann so grausam sein, diese winzige Seele von sich zu weisen? Die Frage beunruhigt mich.
Wie werde ich unser Kind lieben, wenn es uns endlich geschenkt wird! Aber das kannst Du sicher verstehen, denn ich kann es mir nicht anders vorstellen, als dass Du eine wunderbare Mutter für Deinen kleinen Sohn bist.
Henry hat ein solches Mitgefühl mit mir, weil ich mich nach einem Kind sehne, dass er schon anbot, wir würden fremde Waisen annehmen, wenn uns am Ende keine eigenen Nachkommen gegönnt werden. Er ist ein so liebenswerter Mensch, mit so einem großen Herzen, und dabei doch ein brillanter Geschäftsmann. Ein Grund mehr, warum ich uns Kinder wünsche – er wäre ein bewundernswerter Vater.
1611
Liebste Agnes,
zu meiner Freude hat mein geliebter Bruder sich bereitwillig angeboten, Dir einen Besuch abzustatten. So kann er Dir persönlich diesen Brief und ein Geburtstagsgeschenk bringen, um dessen Beförderung ich mir Sorgen gemacht hatte. Die Jacke, die ich Dir auf diesem Wege schicke, ist in London gefertigt, von einem derzeit hochangesehenen Tailleur. Ich konnte der Pracht seiner Werke nicht widerstehen und habe mir selbst dort etwas fertigen lassen. Es gefiel mir so gut, dass ich beschloss, Du musst ein ähnliches Stück erhalten. Hoffentlich gefällt es Dir so sehr wie mir. Georg war neugierig darauf, Dich nach all der Zeit wiederzusehen. Es ist ja nun schon so lange her, dass ich Henry hierher gefolgt bin, und manchmal habe ich den Eindruck, dass Georg inzwischen mehr Zeit in Bristol verbringt als in seinem Geschäft in Lübeck oder bei den Eltern in Celle.
1612
Ich weiß, ich sollte mich freuen, dass Du in Georg so einen guten Freund wiedergefunden hast, leider sorge ich mich dieser Tage um ihn. Es beunruhigt mich, dass unsere Eltern mir bereits in misstrauischem Tonfalle in einem Brief mitteilen, dass mein Bruder so oft bei ihnen weilen würde und dann unter Nennung dürftiger Gründe tageweise abwesend wäre. Er selbst lässt bei mir kaum noch von sich hören, was ganz ungewöhnlich für ihn ist.
Liebste Agnes, Du wirst es mir doch immer schreiben, wenn Dir etwas auf dem Herzen liegt, nicht wahr? Ich würde alles tun, um dir zu helfen, falls es sich um eine Schwierigkeit handelt, für die es eine Lösung gibt. Ich wünsche mir sehr, dass Dich Schwierigkeiten anderer Art nie betreffen werden.
1613
Liebste Agnes,
ich bin kaum in der Lage, einen sinnvollen Satz zu Papier zu bringen. Was soll ich Dir zuerst mitteilen? Zu viele Gefühle stürmen auf mich ein. Freude für Dich, über Deinen zweiten Sohn. Neid, weil mir dieses Glück weiterhin verwehrt bleibt. Erleichterung, weil Du mit Vernunft und Entschlossenheit eine kluge Entscheidung getroffen hast. Denn klug war sie sicher. Ob sie die glücklichste war, wird man nie wissen. So groß wie die Erleichterung ist allerdings der Kummer über den traurigen Zustand meines Bruders, der seit einer Weile wieder bei uns im Land weilt. Er ist freudlos und rastlos; es zieht ihn in die Ferne. Ich hoffe, er wird bald ein Glück finden, das ihm seine Ruhe und frühere Freundlichkeit zurückgibt. Denn es ist leider so, dass er sich gerade gegen mich wie ein Scheusal benimmt. Als hätte ich an seinem Unglück Schuld.
1614
Liebste Agnes,
gerade gestern sind wir aus London zurückgekehrt. Wie gern würde ich Dir einmal diese beeindruckend große Stadt mit ihren prächtigen und grauenhaften Seiten zeigen. Das Angebot an Waren ist schier überwältigend.
Georg hat endlich aufgehört, sich wie ein Scheusal zu benehmen. Bevor ich letzte Woche mit Henry nach London aufgebrochen bin, haben wir uns lange unterhalten. Am Ende hat er sich nach Deinem Befinden und dem Deines Sohnes erkundigt. Ich habe ihm erzählt, was Du mir von der prächtigen Entwicklung des kleinen Lorenz berichtet hast. Er hat einiges nachgefragt, mehr, als ich ihm beantworten konnte. Hat der Junge noch blaue Augen, oder haben sie die Farbe gewechselt? Kurz: Mein lieber Bruder bemüht sich, wieder ein vernünftiger Mensch zu werden, mit dem man Worte wechseln kann.
1615
Ich hatte ihm abgeraten, Agnes, das musst Du mir glauben. Ich wusste genau, dass es für ihn mit einem furchtbaren Rückfall enden würde. Und es tut mir so leid für Dich, beim lieben Herrgott. Tausendmal habe ich mich inzwischen dafür verwünscht, dass ich ihm den Brief gezeigt habe, in dem Du Lorenz beschreibst. Er war so aufgewühlt davon, dass auch ich in dem Moment begriffen habe.
Was hätte ich tun
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