Herrmann, Elisabeth
durchwühlte sie ihre Beute und fand nicht, was sie suchte.
Schlaftabletten. Jeder hatte doch Schlaftabletten.
Högt
blodtryck. Antipsykodika. Akut stressreaktion. Bingo.
Sie warf sich ein halbes Dutzend der blauen Pillen ein und trank direkt
aus dem Wasserhahn. Die Wirkung war ihr egal. Hauptsache, sie sah keine Leichen
mehr. Sie hoffte, dass fünf Jahre ohne harte Drogen reichten. Dass der Kopf
mitmachen würde, und der Körper. Dass sie damit umgehen konnte wie mit einem
Unfall. Und dass sie genug Tabletten finden würde. Sie wollte gerade nach der
Flasche mit den blauen Pillen greifen, als sie es hörte.
Ein leises Geräusch. Sie hob den Kopf. Jemand kam in die Wohnung. Hilflos
sah sie sich um. Das Fenster über der Toilette war viel zu klein. Sie trat
lautlos vom Waschbecken zurück und suchte Schutz hinter der halb geöffneten
Tür. Die Schritte kamen näher, leise und schleichend. Judith versuchte, sich
auf die Fliesen zu konzentrieren. Sie waren beige, und die Fugen schlängelten
sich vor ihren Augen zu amorphen Netzen. Das Zittern hörte nicht auf. Sie
presste die Kiefer zusammen, aber sie konnte nichts dagegen tun, dass ihre
Zähne klapperten und sie die Wand entlang nach unten rutschte.
Akut
stressreaktion.
Ihre Knie berührten die Tür, die sich unendlich langsam und verräterisch
schloss. Die Schritte draußen hielten inne. Sie kippte zur Seite. Jemand drückte
gegen das Holz, aber ihr Körper versperrte den Weg. Sie war unfähig, sich zu
rühren. Sie wurde ein Stück zur Seite geschoben und sah einen Schuh,
Wanderstiefel. Cognac. Teuer.
»Judith?«
Sie kannte die Stimme, doch sie kam nicht auf den Namen. Jemand rüttelte
sie, versuchte, sie hochzuziehen, aber sie war klatschnass und das Badezimmer
einfach zu eng.
»Judith!«
Er schlug ihr ins Gesicht. Von weit her signalisierte ihr Hirn, dass sie
Schmerz zu empfinden hatte. »Wachen Sie auf!«
Sie blinzelte. Das grotesk verzerrte Gesicht von Kaiserley kam näher. Er
hatte eine Nase wie ein Pferd. Wenn sie ihm das erzählen würde... Sie grinste.
»Wir müssen verschwinden. Sofort.«
Sie versuchte die Hand zu heben, um ihn zu verscheuchen. Nerviger, blöder
Sack. Sie hatte andere Probleme.
»Irene Borg ist tot. Kommen Sie.«
Er griff unter ihre Achseln und stemmte sie hoch. Ihre Turnschuhe glitten
aus, sie strampelte verzweifelt, aber schließlich kam sie auf die Beine,
zitternd, wankend, vornübergebeugt wie ein Klappmesser. Er richtete sie auf und
presste sie an die Wand.
»Ist ja gut«, sagte er. Er musterte sie, erkannte, was geschehen sein
musste, und plötzlich zog er sie an sich. »Ist ja gut. Ich hätte Sie nicht
allein lassen dürfen.«
»Sie ...« Sie rang nach Luft. Ihre Kehle zog sich zusammen. Der Brechreiz
war überwältigend, aber sie konnte immerhin klar genug denken, dass er das
nicht verdient hatte. »Du Arsch hast mich eingesperrt.«
»Es tut mir leid. Judith. Mein Gott.«
Sie stemmte sich weg von ihm. Die Pillen besänftigten die Schlange in ihr,
aber sie zogen ihr auch gleichzeitig den Boden unter den Füßen weg. Sie fuhr
sich mit dem Handrücken über den Mund, stieß sich ab und taumelte in den Flur.
Die Leiche lag immer noch auf dem Teppich.
Etwas in ihr zersprang. Ihr Herz hämmerte in ihrem Brustkorb, und sie
fragte sich, warum all das, wonach sie sich gesehnt hatte, in einem Alptraum
endete. Sie stolperte auf die Frau zu und ging vor ihr auf die Knie. Sie
streckte die Hand aus und berührte sie. Ihre Haut war noch warm.
»Nicht«, sagte er.
Er nahm sie wieder in den Arm und zog sie weg.
»Sie ist es nicht. Sie ist es nicht. Judith, sie ist es nicht. Ich habe
damals ein Foto deiner Mutter gesehen. Judith!«
Aber sie hätte es sein können. Sie stieß ihn weg und beugte sich über die
Tote. Irene Borg hatte dunkle, von grauen Strähnen durchzogene Haare. Ihr
Lippenstift war verschmiert, der Mund geöffnet wie zu einem erstaunten Ausruf.
Vielleicht war sie einmal schön gewesen, auf eine verlockende, derbe Art, die
schnell ins Vulgäre abgleiten konnte. Judith streckte erneut die Hand aus, aber
Kaiserley fing sie wieder ein und drückte sie an sich.
Sie wartete auf Tränen, doch sie kamen nicht.
»Wir müssen weg«, sagte er. »Was haben Sie hier angefasst?«
»Ich ... keine Ahnung.«
Sie versuchte, sich vom Anblick der Toten zu lösen, aber es gelang ihr
nicht. Kaiserley strich ihr die nassen Haare aus der Stirn und hielt sie fest.
Es war ihr egal. Es bedeutete nichts.
»Was haben Sie
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