Herrmann, Elisabeth
den beiden Alten sprach. Sie stellten Judith eine Falle
und konnten in aller Seelenruhe darauf warten, dass sie hineintappte. Das
Heulen der Sirene hatte aufgehört. Die plötzliche Stille gellte in seinen Ohren
wie ein Alarm. Sie mussten den Wagen bemerkt haben. Und Judith. Das Einzige,
was ihn noch auf seinem Stuhl hielt, war der Gedanke an die Kidnappingsicherung
und daran, dass der Wagen nicht von allein auf über vierzig Stundenkilometer
beschleunigen würde.
»Ihr sagt mir sofort, wo ich Irene Borg finde. Wenn ihr in der
Zwischenzeit auch nur ein Haar gekrümmt wurde, werde ich dafür sorgen, dass
man euch zur Verantwortung zieht. Vielleicht nicht moralisch. Aber finanziell.
Ihr habt euer Schweigen verkauft. Das Geld wird sich die Bundesrepublik
wiederholen. Mit Zins und Zinseszins.«
»Das ist uns egal«, sagte Volfram. »Unserer Enkelin darf nichts
passieren.«
»Bringt Madita an einen sicheren Ort. Sie werden euch in Ruhe lassen, denn
ihr habt euren Auftrag ausgeführt und seid damit aus dem Visier. Wenn die Frau
sich trotzdem wieder meldet, wendet euch sofort an Sofie in Linneaholm.
Verstanden?«
Gillis nickte.
»Sie wohnt im Ryttmästareg vier in Rönneholm. Zehn Minuten von hier.«
Quirin stand auf und verließ das Haus. Gillis' Schluchzen verfolgte ihn
noch, als er schon längst die Tür hinter sich zugezogen und das Haus verlassen
hatte.
*
Judith kam aus der Kälte und dem Nichts. Sie öffnete die Augen und
realisierte, dass sie zusammengekrümmt auf dem Boden lag und mit den
leuchtenden Augen eines Neugeborenen helle Würmer beobachtete, die vor ihrer
Nase tanzten. Es waren so viele. Sie sahen aus wie gelbes Gras auf einer
Sommerwiese, über die der Wind strich. Sie wiegten sich, neigten sich, auf und
ab, hin und her. Tentakeln wie Seeanemonen auf dem Grund des Meeres.
Sie blinzelte, streckte die Hand aus und griff hinein. Die Würmer fühlten
sich weich und wollig an. Sie lag auf einem Teppich, einem Shaggy, und der
lange Flor bewegte sich, als wäre er lebendig. Aber die Augen, die sie
anstarrten, waren tot. Und aus dem Hals der Frau ragte ein Messer.
Judith versuchte, sich zu bewegen. Aber sie war noch immer nicht in ihrem
Körper angekommen. Das Heroin floss noch durch ihre Adern, der Rausch glühte
aus, doch in ihrem Bauch regte sich bereits die kleine Schlange und zischte:
»Mehr.«
Abgespaced, dachte sie. Halluzinationen. Sie versuchte, sich an
ihren Traum zu erinnern. Nach so langer Zeit wirkte die Droge bei ihr offenbar
wie ein Türöffner. Sie bekam noch ein paar Bilder zusammen. Aber sie schaffte
es nicht mehr, durch den Spalt zurückzugehen.
Ihre Zunge war ein geschwollener Klumpen. Wasser, dachte sie. Ich brauche
Wasser.
Sie wusste, dass die Schlange erwachen würde. Es war nur eine Frage der
Zeit, und der richtige Horrortrip würde beginnen. Dagegen waren Lenin, Gagarin
und eine Tote mit Messer im Hals lächerlich.
Sie versuchte, sich auf den Rücken zu drehen, und war erstaunt, als es
ihr gelang. Sie hob beide Hände vor ihr Gesicht. Die Verbände waren blutgetränkt,
die Arme völlig verschmiert. Mit einem Stöhnen setzte sie sich auf. Die Wände
tanzten Tango. Vor, zurück. Wechselschritt. Sie sah nach links. Die Frau lag
immer noch da in einem dunkelroten See. Der Sessel war umgeworfen, Schubladen
aus der Schrankwand gezogen und der Inhalt überall verstreut.
Judith kam auf die Beine und stolperte in den Flur. Sie hielt sich am
Türrahmen fest und versuchte, nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Das Bad.
Links. Rechts. Hier. Wanne.
Sie stützte sich an der Fliesenwand ab und hinterließ einen roten Abdruck.
Als sie den Hahn aufdrehte, prasselte eiskaltes Wasser auf ihren Kopf. Sie
stellte sich so, wie sie war, unter die Dusche und beobachtete staunend, wie
das Wasser blassrosa und gurgelnd seinen Weg in den Abfluss suchte. Die
Schlange in ihrem Bauch regte sich. Judith begann zu zittern, so sehr, dass es
ihr kaum gelang, das Wasser wieder abzudrehen. Durch die weiche Watte in ihrem
Hirn bohrte sich ein Gedanke: Turkey. Er würde kommen. Sie brauchte Tabletten.
Sie stieg aus der Dusche und schleppte sich tropfnass zum Waschbecken. Sie
erkannte ihr Gesicht im Spiegel kaum wieder. Augen und Nase waren geschwollen,
das linke Jochbein leuchtete unnatürlich rot. Sie riss die Spiegeltür auf und
suchte nach Medikamenten. Zahnpasta. Salben. Tinkturen. Shampoo. Sie räumte die
Regale mit einer fahrigen Bewegung ab, alles fiel ins Waschbecken. In
fliegender Hast
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