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Herrmann, Elisabeth

Herrmann, Elisabeth

Titel: Herrmann, Elisabeth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zeugin der Toten
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sich
nicht um, weil weder Kaiserley noch ein anderer ihr die Mühe wert war. Sie
wusste nicht, warum sie wieder wütend auf ihn war. Es hatte nichts mit seiner
demotivierenden Sportlichkeit zu tun. Eher mit Malmö und Sofie und diesen alten
Seilschaften und Verbindungen, die immer noch funktionierten und Leute wie sie
einfach außen vor ließen.
    »Guten Morgen.«
    Ein Mann stellte sich neben sie und atmete tief und hörbar durch. Sie sah
kurz hoch. Er war einen Kopf größer als sie, hellhäutig und kräftig. Auf
seiner Stirn leuchteten Sommersprossen. Mittlerer Verwaltungsbeamter.
Bürgeramtszweigstellenleiter. Sie antwortete nicht.
    »Herr Kaiserley braucht noch ein paar Minuten, nehme ich an. Das ist gut,
denn so können wir ungestört miteinander reden. Mein Name ist Dr. Matthes.«
    Langsam drehte sie sich um und musterte den Mann von oben bis unten. Seine
Unauffälligkeit war gewollt. Auf den zweiten Blick offenbarte er Autorität und
Selbstbewusstsein. Das musste man auch haben, wenn man es wagte, Hunde auf sie
zu hetzen. Judith konnte den Fluchtimpuls kaum beherrschen. Es konnte nur einen
Grund geben, warum er im Hotel auftauchte.
    »Was ist mit Martha Jonas?«
    »Sie hatte nach Ihrem Besuch einen leichten Schlaganfall. Nicht schlimm.
Wir kriegen das in den Griff.«
    »So. Vielleicht sollten Sie etwas weniger großzügig mit den Medikamenten
bei ihr sein. Auf mich wirkte sie völlig klar.«
    Dr. Matthes betrachtete wieder das Meer. Er tat es gründlich und mit
tiefem Wohlwollen. Er verschränkte die Hände auf dem Rücken und wippte
entspannt vor und zurück. So sahen Menschen aus, die in Museen vor Bildern
standen und glaubten, sie könnten sich ein Urteil erlauben.
    »Sie sind wieder in Sassnitz. Sie haben doch nicht etwa vor, bei Frau
Jonas erneut einen unangemeldeten Besuch zu machen?«
    »Und wenn?«
    Matthes seufzte. Eine Möwe blieb mitten in der Luft stehen, keine zwei
Meter entfernt. Sie starrte Judith aus kieselschwarzen Augen an und drehte ab.
    »Sie dürfen nicht mehr kommen, Frau Kepler.«
    »Dies ist ein freies Land.«
    »Sicher. Aber Martha Jonas steht unter unserem besonderen Schutz. Das Land
hat ihr viel zu verdanken.«
    »Welches? Das freie oder das andere?«
    Matthes lächelte. Judith konnte sich vorstellen, dass Frauen sich ihm
gerne anvertrauten. Er sah verlässlich und hilfsbereit aus. Einer, der gerne
zuhörte. Leider war er bei Judith an jemanden geraten, der nicht gerne
erzählte.
    »Beide, Frau Kepler, beide. Auch wenn Herr Kaiserley Ihnen anderes
erzählen mag, wir sind im Hier und Heute angekommen. Die meisten jedenfalls.
Einige wenige allerdings leben im Gestern, und jeder Versuch, ihnen die
Wahrheit zu sagen, endet schmerzlich.«
    »Martha Jonas hat kein Alzheimer, falls Sie mir das sagen wollen. Sie ist
absolut klar und zurechnungsfähig. Es gibt für mich keinen Grund, an dem zu
zweifeln, was sie mir erzählt hat.«
    »Und das wäre?«
    Judith wollte an ihm vorbei, doch er verstellte ihr den Weg. Das Pärchen
war weg. Das Personal auch. Niemand würde bemerken, wenn Matthes sie jetzt
einfach ...
    »Was hat sie Ihnen gesagt?«, fragte Matthes. Seine Stimme, eben noch warm
und schmeichelnd, klang nun kalt.
    »Dass ihr Psychiater ein Arschloch ist.«
    Matthes verzog den Mund.
    »Ich könnte Ihnen helfen, wenn Sie kooperieren.«
    Judiths Hand tastete nach dem Geländer. Sie wollte sich festhalten
können, wenn es um die Alternative zum Nicht-Kooperieren ging. Matthes stand
jetzt so nahe bei ihr, dass sie sein Rasierwasser riechen konnte. Lagerfeld.
Es war der einzige Geruch, den sie sogar bei Windstärke zehn in Gegenrichtung
erkennen würde. Sie wusste nicht, warum, vielleicht, weil er so schwer und
schwül und einprägsam war.
    »Was heißt das?«, fragte sie.
    »Sie vergessen uns. Und ich helfe Ihnen. Eine Hand wäscht die andere.«
    Achtzehn Stockwerke. Sie versuchte, nicht daran zu denken. Sein Lächeln
war wieder mild und aufrichtig.
    »Was Martha Jonas Ihnen sagen kann, kann ich auch. Fragen Sie mich. Nur
zu. Ich sage Ihnen alles, was Sie wissen wollen.«
    Ein aberwitziger Gedanke schoss in Judiths Hirn.
    »Lenin«, sagte sie. »Wo finde ich ihn?«
    »Er ist nicht mehr hier.« Matthes verzog die Lippen zu einem bedauernden
Lächeln. »Keiner weiß, wo er hingeraten ist.«
    »Oh, das ist aber sehr schade. Nicht gut auf ihn aufgepasst, was?«
    Welche absurden Dialoge sie in letzter Zeit führte. Die ganze Welt war ein
Irrenhaus. Ihre Hand entspannte sich, blieb aber immer noch

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