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Herrmann, Elisabeth

Herrmann, Elisabeth

Titel: Herrmann, Elisabeth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zeugin der Toten
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würde mit der Putzfrau reden. Ihr ein bisschen Geld anbieten, damit
sie die Sache vergessen würde. Vielleicht einen Job in der schönen neuen
Hauptstadtzentrale. Inklusive Schweigeklausel im Arbeitsvertrag.
    Aber würde
eine Frau wie Judith Kepler darauf eingehen? Nachdenklich legte er die Ausweise
wieder auf den Tisch.
    Er ging
zum Fenster, das sperrangelweit offen stand, und schaute hinunter auf die
menschenleere Straße. Gerade flackerten die Laternen ein letztes Mal und
verlöschten. Eine Straßenbahn fuhr rumpelnd über die Prenzlauer Allee. In einigen
Fenstern brannte Licht. Am Ende der Straße verschwand ein Schatten um die
Ecke. Leise, unauffällig, ein Chamäleon, das sich den Farben der erwachenden
Stadt anpasste und im Vorübergehen schon vergessen war.
     
    Es war
taghell, als Judith wieder ihre Wohnung betrat. Diesmal hatte sie die
Bücherkiste mit nach oben genommen und stellte sie im Wohnzimmer ab, dann
sammelte sie Borgs Habseligkeiten endgültig ein und verfrachtete die Säcke in
den Flur. Sie duschte und zog sich frische Sachen an. Als sie vor ihrer Plattensammlung
stand, konnte sie sich nicht entscheiden: die uralte, zerkratzte
Dean-Martin-Platte, die Josef ihr einmal mit einem strahlenden »Hab ich für
dich gerettet« mitgebracht hatte, oder die neue von Antony and the Johnsons,
die sie erst letzte Woche gekauft hatte? Judith hörte keine CDs mehr, seit sie
Vinyl entdeckt hatte. Obwohl sie alle für verrückt hielten, glaubte sie doch
an einen Unterschied. Außerdem liebte sie den Moment, wenn eine Platte aus
ihrer Hülle auf die Fingerspitzen glitt, sie vorsichtig darüber pustete und sie
dann auflegte. Vinyl hatte etwas mit Zeit und Hingabe zu tun. CDs und Dateien
mit sofortiger Verfügbarkeit.
    Sie
entschied sich für »The Crying Light«, weil sie nach diesem brodelnden Kessel
voller Gewalt, Lügen, Gleichgültigkeit und Herablassung eine Stimme wie die von
Hegarty brauchte. Musik wie das gute Schweigen nach einem Gespräch mit Freunden.
Jedenfalls stellte sie es sich so vor. Sie legte die Platte auf, holte sich
eine neue Flasche Wein aus dem Kühlschrank und stolperte vor der Küche über
ihre achtlos hingeworfenen Arbeitsklamotten. Sie ging zurück, stopfte die
Sachen in die Waschmaschine, und als sie ihre verdreckte Jeans wendete, fiel
ihr das Familienfoto von Gerlinde Wachsmuth wieder in die Hände.
    Vorsichtig
zog sie es heraus und strich es glatt. Sie sah einen gescheiterten Traum, der
einen bitteren Nachgeschmack hinterließ. Du hast gedacht, er kommt noch.
Irgendwann wird er kommen. Und dann wird es so sein wie früher, als man
einfach nur liebte. Er war doch schließlich dein Sohn. Das einzige Kind, das du
hattest.
    Zusammen
mit der Heimakte legte sie das Foto zu den anderen in ihre
Schreibtischschublade. Judith erinnerte sich an jedes einzelne. An die Namen
der Menschen auf den Fotos und an die Hast, mit der ihre Wohnungen aufgelöst
und entrümpelt worden waren. Es war ein Spleen. Verrückt. Aber es war Judiths
Art, dem Tod die rote Karte zu zeigen. Er sollte nicht der letzte Freund
gewesen sein.
    Sie gab
sich zwei Stunden, legte sich aufs Bett und war Sekunden später eingeschlafen.
Hegarty sang von weinendem Licht.
     
    Am
Sonntagnachmittag hatte Judith ihren Auftrag beendet. Die Wohnung roch nach
Chlor und Kernseife. Die Maler mussten nur noch die Einschusslöcher zuspachteln
und die Wände streichen. Bevor sie ging, überprüfte sie jede Lampe, jede
Steckdose, jede Ecke und jeden Spalt in den Möbeln, aber sie konnte kein
Mikrophon und keine weitere Kamera entdecken. Wahrscheinlich fehlte ihr auch
das Know-how, und sie konnte nur für die Nachmieter hoffen, dass Karsten
Michael Oliver Arschloch zumindest bis zu ihrem Auftauchen gründlich
gearbeitet hatte.
    Sie hatte
Fricke bei der Abnahme auf die Kamera hingewiesen, der leise schimpfend eine
Leiter geholt, das Ding abmontiert und sich in die Hosentasche gesteckt hatte.
Sein Ärger über die Zusatzarbeit war so echt, dass Judith ihn nicht
verdächtigte, von der Lauschaktion gewusst zu haben. Sie hatte ihn gefragt, ob
er nicht die Polizei verständigen wolle, und den unwilligen Hinweis geerntet,
von denen wäre die Kamera ja wohl gekommen.
    »Wer hat
sie eigentlich gerufen?«, hatte Judith gefragt. »Die Bullen, meine ich.«
    »Keine
Ahnung.«
    Fricke
hatte es eilig wegzukommen. Er arbeitete am Sonntag genauso ungern wie der Rest
der Welt. »Schlüssel in den Briefkasten. Rechnung an die WBG Helle Mitte.«
    Judith
nickte.

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