Herrscher des Lichts - Sanderson, B: Herrscher des Lichts - The Hero of Ages, Mistborn 3
empfand sie einen kurzen Augenblick reflexartiger Furcht, als sie vor der gewaltigen Bestie mit ihrer straff gespannten Haut und den blutigen Rippen stand.
»Warum bist du ins Lager gegangen?«, fragte sie und schüttelte ihre Panik ab.
»Ich bin Mensch«, sagte der Koloss langsam und bedächtig.
»Du bist ein Koloss«, erwiderte sie. »Das weißt du.«
»Ich sollte ein Haus haben«, sagte Mensch. »Wie die da.«
»Das sind keine Häuser, sondern Zelte«, erklärte Vin. »Du kannst nicht einfach in ein Lager wie dieses gehen. Du musst bei den anderen Kolossen bleiben.«
Mensch drehte sich um, schaute nach Süden, wo die KolossArmee getrennt von den Menschen wartete. Sie stand weiterhin unter Elants Kontrolle, zwanzigtausend an der Zahl, nachdem sie die zehntausend aufgenommen hatten, die beim Hauptteil der Armee gewesen waren. Es war sinnvoll, sie unter Elants Kontrolle zu belassen, da er – zumindest was seine Kraft anging – ein viel stärkerer Allomant als Vin war.
Mensch sah wieder Vin an. »Warum?«
»Warum du bei den anderen bleiben sollst?«, fragte Vin zurück. »Weil du den Menschen in diesem Lager unangenehm bist.«
»Dann sollten sie mich angreifen«, sagte Mensch.
»Das ist der Grund, warum du kein Mensch bist«, sagte Vin. »Wir greifen keine Leute an, nur weil sie uns unangenehm sind.«
»Nein«, sagte Mensch. »Ihr macht, dass wir sie stattdessen töten. «
Vin verstummte und hielt den Kopf schräg. Mensch schaute einfach weg und sah wieder das Menschenlager an. Seine roten Perlaugen machten es beinahe unmöglich, in seinem Gesicht zu lesen, doch Vin spürte beinahe so etwas wie Verlangen in seiner Miene.
»Du bist einer von uns«, sagte Mensch.
Vin hob den Blick. »Ich?«
»Du bist wie wir«, meinte er. »Nicht wie sie.«
»Warum sagst du das?«, fragte Vin.
Mensch sah auf sie herunter. »Nebel«, sagte er.
Vin verspürte ein kurzes Gefühl der Kälte, für das sie keine Erklärung hatte. »Was meinst du damit?«
Mensch gab keine Antwort darauf.
»Mensch«, sagte sie und versuchte es mit einer anderen Taktik. »Wie denkst du über den Nebel?«
»Er kommt bei Nacht.«
Vin nickte. »Ja, aber was hältst du von ihm? Du und dein Volk? Fürchtet ihr den Nebel? Tötet er euch?«
»Schwerter töten«, antwortete Mensch. »Regen tötet nicht. Asche tötet nicht. Nebel tötet nicht.«
Recht gute Logik, dachte Vin. Noch vor einem Jahr hätte ich ihm zugestimmt. Sie wollte schon das Gespräch beenden, doch Mensch redete weiter.
»Ich hasse ihn«, sagte er.
Vin blieb stumm.
»Ich hasse ihn, weil er mich hasst«, erklärte Mensch und sah sie an. »Du spürst es.«
»Ja«, sagte Vin und war überrascht von sich selbst. »Das tue ich.«
Mensch betrachtete sie, während ein Blutrinnsal aus dem Riss knapp unter dem Auge hervortrat, an seiner blauen Haut herunterrann und sich mit den Ascheflocken mischte. Schließlich nickte er, als würde er ihre ehrliche Antwort billigen.
Vin zitterte. Der Nebel ist nicht lebendig, dachte sie. Er kann mich nicht hassen. Ich bilde mir etwas ein.
Aber … einmal, vor einigen Jahren, hatte sie Kraft aus dem Nebel gezogen. Als sie mit dem Obersten Herrscher gekämpft hatte, hatte sie irgendwie Macht über den Nebel erlangt. Es war, als hätte sie statt der Metalle den Nebel selbst zur Stärkung ihrer Allomantie benutzt. Nur durch diese Macht hatte sie den Obersten Herrscher besiegen können.
Das war lange her, und es war ihr nie gelungen, dieses Ereignis zu wiederholen. Immer wieder hatte sie es während der letzten Jahre versucht, doch nach all den Fehlschlägen war sie allmählich zu der Einsicht gekommen, dass sie sich damals geirrt haben musste. Gewiss war der Nebel in jüngster Zeit unfreundlich. Sie versuchte sich beständig einzureden, an ihm sei nichts Übernatürliches, aber sie wusste, dass das nicht stimmte. Was war mit dem Nebelgespenst, jenem Wesen, das Elant zu töten
versucht hatte – und ihn dann gerettet hatte, indem es Vin gezeigt hatte, wie sie Elant zu einem Allomanten machen konnte? Es war real gewesen, dessen war sie sich sicher, auch wenn sie es schon seit über einem Jahr nicht mehr gesehen hatte.
Was war mit der Zögerlichkeit, die sie dem Nebel gegenüber empfand, und mit der Art, wie er vor ihr zurückwich? Mit der Art, wie er von Gebäuden fernblieb, und mit der Art, wie er tötete? Alles schien auf das hinzudeuten, was Mensch gesagt hatte. Der Nebel – der Dunkelgrund – hasste sie. Und schließlich gab sie das zu, was
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