Herrscher über den Abgrund
Wahrscheinlich hätte man in seiner Horde zunächst Fragen gestellt, aber diese Frau bezeichnete es ohne Umschweife als das, was es war: ein Schutz gegen Unsichtbares. Der Planer hatte so energisch bestimmt, daß er bei Kaboss wohnen sollte. War der alte Händler vielleicht etwas überschwenglich gewesen?
Sanders Gedanken gingen in eine andere Richtung. Angenommen, die Händler vermuteten, daß er und Fanyi nicht aus Zufall durch diese Gegend zogen. Da sie selbst ständig auf der Suche nach Schätzen waren, lag es nahe, wenn sie annahmen, die Eindringlinge suchten ebenfalls nach irgend etwas. Es war einfacher, sie freizulassen und ihnen zu folgen, als ihnen das Geheimnis mit Gewalt zu entreißen. Sander war überzeugt, daß die Hunde ebenso gut Spuren folgen konnten wie Rhin. Vielleicht war man bereits auf seiner Spur …
Rhin folgte ganz offensichtlich einer Fährte, die frisch und deutlich war. Zum erstenmal bedachte Sander Fanyis Haltung. Sie hatte nicht den kleinsten Versuch unternommen, auf ihn zu warten. Schätzte sie seine Hilfe bei der Suche so gering, daß sie ihn einfach abschüttelte? Ärger stieg in ihm hoch. Es kam ihm vor, als sei er minderwertig und nutzlos für sie. Vielleicht hatte der Anhänger ihr ein Zeichen gegeben, daß sie nahe an ihrem Ziel sei und seine Begleitung nicht länger nötig habe?
Hin und wieder blickte er zurück zu dem dunklen Händlerdorf. Noch regte sich nichts, doch das brauchte nicht zu bedeuten, daß er unbeobachtet war.
Dieser Teil des Tals bot keinen Schutz vor Blicken. Das Dorf lag auf einer Seite recht hoch am Hang, und im Norden wand sich der Fluß. Rhin trottete auf das Wasser zu und schnüffelte ab und zu am Boden. Die Nacht war frostklar. Sander zog sich förmlich in seine Felljacke zurück und stülpte die Kapuze über den Kopf. Er war müde, und seine Arme und Schultern schmerzten von den ungewöhnlichen Anstrengungen des Nachmittags, als er versucht hatte, Kaboss mit seinem Können zu beeindrucken. Und davor lag die Anspannung und die Erschöpfung ihrer mühsamen Reise durch die entsetzlichen Felsen und ihren Gefahren. Sander wußte, er würde nicht lange gegen den Schlaf ankämpfen können. Jetzt schon während des Ritts sank ihm der Kopf manchmal auf die Brust, bis er aufschreckte und wieder hell wach war. Wie konnte Fanyi nur so rasch laufen? Aber natürlich, sie hatte keinen Nachmittag am Amboß verbracht.
Rhin war am Ufer angekommen, hielt an und witterte nach rechts und links. Schließlich bellte er, und Sander verstand, daß die, denen er folgte, hier den Fluß überquert hatten. Er wunderte sich über Fanyis Unachtsamkeit, denn sie wußte doch, daß der Fluß weiter unten von den Wasserwesen bevölkert war. Führte der Pfad hier nach Westen oder Norden? Sander versuchte seine Erschöpfung abzuschütteln und sich zu entscheiden. Seit sie die alte Küste der Meereswüste betreten hatten, hatte Fanyis Anhänger immer nach Westen gezeigt. Er konnte sich nicht vorstellen, daß sich nun plötzlich die Richtung geändert haben sollte. Also hatten Fanyi und die Fischer nur den Fluß benutzt, um die Hunde zu verwirren, die ihnen vielleicht folgen würden. Wenn er weiter stromaufwärts ritt, würde er bald wieder auf den Weg stoßen, den die drei eingeschlagen hatten.
Er trieb Rhin mit seinen Knien nach Westen, entlang dem Fluß. Der Mond schien, doch war er im Abnehmen und spendete nur wenig Licht.
Sander passierte einen Flecken, der dicht mit Büschen bewachsen war, und plötzlich war er hell wach. Das Band, das seinen Kopf umschloß – es war warm! Nein, heiß! Und wurde immer heißer! Seine Hände fuhren an die Stirn, um es abzureißen; aber dann zögerte er. Genau das wollte der Unbekannte. Kaltes Eisen. Nein, heißes Eisen, Eisen, das ihn versengen und verbrennen konnte. Dieser Schmerz sollte ihn zwingen, sich seiner einzigen Waffe zu entledigen.
Das Eisen war heiß, als läge es in einem starken Feuer. Aber das war unmöglich in dieser eisigen Nacht! Es konnte doch nicht sein! Sander fing an, die Worte der Schmiedezunft zu rezitieren. Das Band um seinen Kopf brannte, als wäre es weißglühend, doch stimmte es nicht: der andere wollte nur, daß er es glaubte. Darüber war sich Sander im klaren. Die Hitze war nur eine Sinnestäuschung – ein Traum – die ihn seines Schutzes berauben sollte. Wenn seine Qual nur ein Traum war, dann war die Hitze nicht wirklich. Entschlossen hielt er die Hände unten und kämpfte gegen den Schmerz. Das – war – nicht
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