Herrscher
sie, wen sie nun ansprechen sollte.
Nur eine Mutter fiel ihr ein. In mancher Hinsicht war sie eine unzulängliche Wahl. Dennoch war sie die Mutter, die Dar an ihrer Seite haben wollte.
Vielleicht weigert sie sich, mir zu helfen. Ich könnte es ihr schwerlich verübeln. Diese Möglichkeit verursachte Dar neue Besorgnis, und sie verbrachte eine weitere unruhige Nacht.
Am nächsten Morgen handelte sie. Als im Familiensitz das Tagewerk bereits in Gang war, verließ sie ohne jede Begleitung ihr Hanmuthi und suchte die Werkstatt auf, in der man Tuch wob. Die lang gestreckte Räumlichkeit hatte
Nordfenster, durch die reichlich Helligkeit eindrang. Dicht an dicht standen die Webstühle. An jedem saßen ein Sohn oder eine Mutter und webte.
Anfangs wurde Dar, als sie sich einen Weg durch die Reihen der Webstühle suchte, nicht bemerkt. Doch sobald man sie erkannte, kam alle Tätigkeit zum Erliegen, und es wurde still in der Weberei. Sämtliche Blicke richteten sich auf sie. Wieder einmal wurde ihr peinlich bewusst, dass sie keine Ahnung hatte, wie sie sich verhalten sollte.
Endlich erspähte sie Nir-yat, die reglos, ein Weberschiffchen in der Hand, an ihrem Platz saß. Sie verneigte sich, als Dar sich näherte.
»Ich möchte gerne mit dir sprechen«, sagte Dar mit leiser Stimme. »Willst du mit mir in mein Hanmuthi kommen ?«
Nir-yat verneigte sich ein zweites Mal. »Hai, Muth Mauk.«
Stumm gingen sie in die königlichen Wohnräume. Erst dort ergriff Dar wieder das Wort. »Nir, ich brauche Hilfe.«
Sofort sah sie Unbehagen in der Miene ihrer Schwester. »Ich vermute, Muthuri hat dir verboten, mir behilflich zu sein.« Da sie wusste, dass Nir-yat unfähig war zu lügen, beharrte sie auf Antwort. »Ist es so?«
»Hai.«
»Töchter müssen ihrer Muthuri pflichtgetreu gehorchen, also ist deine Folgsamkeit eine Tugend. Allerdings befürchte ich, sie wird meinen Untergang begünstigen.« Dar erkannte in Nir-yats Miene Betroffenheit. Das beurteilte sie als vorteilhaftes Zeichen. »Mir bleibt nur eine Hoffnung.« Sie blickte ihrer Schwester in die Augen, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen. »Möchtest du deinen Nacken beugen, damit ich in ihn beißen kann?«
Angesichts dieses großen Ansinnens erbleichte Nir-yat. »In meinen Nacken willst du beißen? Warum?«
»Wenn dein Leben mein ist, hat deine Muthuri keine Gewalt mehr über dich.«
»Sie würde zornig. Und etwas hätte sie noch gegen mich in der Hand. Nur Mütter können Verbindungen segnen.«
»Würde sie den Segen verweigern, um dich zu bestrafen ?«, fragte Dar, die diese Möglichkeit nicht vorausgesehen hatte.
»Es könnte so kommen.«
»Ich würde dich nicht bitten, wenn meine Not nicht so groß wäre.«
»Weshalb ich? Ich bin zu jung, um klug zu sein.«
Im Orkischen gab es kein Wort für »Vertrauen«, denn als Voraussetzung hätte erst einmal so etwas wie Irreführung geläufig sein müssen. Infolgedessen musste Dar ihre Beweggründe mit anderen Darlegungen erläutern. »Immer wenn ich Weisheit zu hören wünschte, hat man mir geraten, mich nach meinem Brustkorb zu richten. Jetzt tu ich’s. Ich möchte Ratschläge, die der Zuneigung entspringen. Du hast dich schon vor meiner Wiedergeburt auf meine Seite geschlagen. «
»Weil du meinem Bruder das Leben gerettet hast.«
»Nach meiner Überzeugung hat Muth’la mich geschickt, um mehr als ihn zu retten. Vielleicht zur Rettung aller Urkzimmuthi. Ich bin die einzige lebende Mutter, die den Krieg kennt. Scheitere ich, lernen auch viele andere ihn kennen.«
»Ich verstehe nichts von Kriegen oder vom Rat der Matriarchinnen«, sagte Nir-yat. »Wie könnte ich dir behilflich sein?«
»Ich habe keinerlei Kenntnis von königlichen Pflichten
oder Etikette. Schon wegen kleiner Fehler steht man töricht da, und Toren haben wenig Anhänger.«
»Wenn du in meinen Nacken beißt, macht Muthuri mir das Leben schwer.«
»Ich weiß, darum ist es am besten, du wohnst bei mir.«
»Für immer?«
»Ich glaube, wenn ich Erfolg habe, verzeiht Muthuri dir. Versage ich, ist es mein Verderben, und du bist von aller Verpflichtung befreit.«
Nir-yat überlegte lange. Dar spürte ihr inneres Ringen und fügte sich geduldig ins Warten. »Schwester«, sagte Nir-yat zu guter Letzt, »auch ich folge meinem Brustkorb.« Sie kniete nieder, neigte den Kopf und schob das Haar beiseite, um ihren Hals zu entblößen.
Dar kniete sich neben ihre Schwester. Sie biss in Nir-yats Nacken so rücksichtsvoll wie möglich, doch fest genug,
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