Herrscher
Auftauchen an der brennenden Feste. Dar zögerte mit der Aufzeichnung, da sie wusste, dass Yev-yat ihre Niederschrift lesen würde. Sie überdachte die Konsequenzen und beschloss weiterzumachen. Überzeugt von ihrem bevorstehenden Untergang sah sie keinen Nutzen darin, das zu verheimlichen, was Muth’la ihr gezeigt hatte.
Dar wurde gerade noch rechtzeitig fertig, um ihr Festmahl zuzubereiten. Es fiel bescheiden aus, denn je höher der Status der bewirteten Familie war, umso gewöhnlicher gestaltete sich das Essen. Das heutige Festmahl war das dreißigste. Die Mahlzeit, die sie Jvar-yat und ihrer Familie auftischte, würde sich von einer alltäglichen nur dadurch unterscheiden, dass man am Ende Falfhissi servierte.
Wie der Docht einer Laterne am hellsten leuchtet, wenn ihr Öl fast verbrannt ist, strahlte auch Dar an diesem Abend. Sie ließ ihren Gästen all ihre Herzlichkeit und Anmut zuteilwerden. Doch ihr Charme steigerte nur die Beklommenheit der Anwesenden, da sie über ihr Schicksal Bescheid wussten.
Jvar-yat hatte zwei Tage damit zugebracht, den Schnee unter den Eiben nach giftigen Kernen abzusuchen. Morgen wollte sie sie in Brennwasser legen, um Muth’las Trunk zuzubereiten. Als Jvar-yat Dars Beherrschung sah, hatte sie das Empfinden, ihr Brustkorb müsse vor Kummer bersten. Als Ork konnte sie ihre Gefühle nicht verbergen. Dies galt auch für die Angehörigen ihrer Familie, die über das Bescheid wussten, was Jvar-yat zu tun gebeten worden war.
Als der Falfhissi-Behälter die Runde machte, trank Dar im Gegensatz zur Jvar-yat nur wenig. Nachdem Jvar-yat zum vierten Mal an der Reihe gewesen war, erhob sie sich auf wackelige Beine und verbeugte sich vor Dar. »Muth Mauk«, sagte sie mit leicht lallender Stimme, »du erweist mir und den Meinen Ehre.«
»Ihr erweist mir Ehre«, erwiderte Dar.
»Dein Brustkorb ist sooo groß«, sagte Jvar-yat. »Und doch ist in ihm keine Feigheit. Nicht die geringste. Ich … Ich verstehe nicht.« Die Latath sackte zusammen und stieß den klagenden Laut aus, den Dar bisher nur selten vernommen hatte – den Klageruf der Orks, wenn sie weinten.
Jvar-yats Zurschaustellung von Gefühl ließ die Anwesenden in Schweigen verfallen. Alle kannten die Ursache ihres Verhaltens, doch niemand konnte ihn zur Sprache bringen.
Dann ergriff Dar das Wort. »Muth’las größtes Geschenk ist die Liebe, nicht das Leben. Ihre Schöpfung dauert ewiglich, und im Vergleich mit der Ewigkeit erscheint einem selbst ein langes Leben kurz. Trotzdem fällt ein kurzes Leben reich aus, wenn ihm die Liebe begegnet. Shashav, Jvar-yat, für mein reiches Leben.«
Sevren traf erst in der Abenddämmerung des nächsten Tages in Taiben ein. Er war gerade durch das Stadttor geritten, als
es auch schon für die Nacht verschlossen wurde. Er begab sich in die Kaserne der Stadtwache, wo er immer noch einen Platz hatte. Kameraden aus der alten Garde hatten seine Abwesenheit vertuscht, deswegen waren ihm sein und Skymeres Platz erhalten geblieben. Sevrens finstere Laune führte aber dazu, dass ihm alle Kameraden außer Valamar aus dem Weg gingen. Valamar kam mit einem Fläschchen Branntwein zu seinem Freund. »Hier, das wird dich wärmen, Sevren, auch wenn es sonst keinen Wert hat.«
Sevren trank einen großen Schluck und schüttelte sich. »Dieses Gebräu passt genau zu unserer neuen Lage.«
»Hast du Dar getroffen?«, fragte Valamar.
»Ja.«
»Und?«
»Sie wird bald sterben.«
»Das tut mir leid. Dann war der Zauberer also erfolgreich mit seinem Gift.«
»Nein, und genau das ist es, was ich nicht aushalte! Der Grund ist irgendein orkischer Brauch, der mir völlig schleierhaft ist.« Sevren schaute seinen Freund an, und sein Gesicht verzog sich vor Wut. »Man wird sie umbringen, Valamar, und sie wird nicht das Geringste dagegen tun.«
»Pissaugen! Sie sind schlimmer als Untiere!«
»Dar denkt da anders. Auch jetzt noch.«
»Tja, sie war eben so blöd, sich ihnen anzuschließen. Und du warst so blöd, dich in sie zu vergucken. Ich hab dich schon an dem Tag gewarnt, an dem ihr euch kennengelernt habt. Leichtsinnige Frauen haben dich schon immer angezogen. Wie damals Cynda.«
Sevren seufzte. »Nur ist es diesmal Gift, nicht der Galgenstrick. « Er trank einen weiteren großen Schluck aus Valamars Fläschchen.
Vor der Versammlung der Matriarchinnen musste Dar noch drei Festmahle ausrichten. Sie fürchtete jedes einzelne – aus unterschiedlichen Gründen. Am einunddreißigsten Essen würde Meera-yat
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