Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Herrscher

Herrscher

Titel: Herrscher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Howell Morgan
Vom Netzwerk:
umgebracht? Dar konnte sich nicht daran erinnern, dass Muth-pah gesagt hatte, der Stein offenbare nur furchtbare oder traurige Augenblicke. Außerdem schmerzen mich die Träume ohnehin, in denen Twea vorkommt. Können die Visionen des Steins etwa schlimmer sein? Sie konnte es sich nicht vorstellen und gab der Verlockung nach.
    Sie hielt den Stein fest und dachte an Twea.
    Das, was dann geschah, erschien ihr unwirklicher als der Wachzustand, doch viel lebhafter als jeder Traum und jede Erinnerung. Sie schaute auf zwei nackte Füße hinab. Sie waren klein und schmutzig. Ein Fuß schwang von einer Seite zur anderen, der dicke Zeh malte einen Halbmond auf die Erde. Oberhalb der Beine befand sich ein zerlumptes, viel zu großes Hemdkleid. Dar erkannte, dass es sich um Tweas Füße handelte; sie sah sie aus der Perspektive des Mädchens.
    »Schau mich an!«, rief eine Frauenstimme.
    Der Blick wanderte zu einer Frau mit harten Zügen. Dar hatte sie noch nie gesehen. Und doch kannte sie sie. Twea nannte sie Tante. »Du bist Abfall«, sagte die Tante. »Deine Muddah hat dich weggeworfen! Deswegen kannstu nicht im Haus schlafen.«
    Das Bild verblasste und wurde durch ein anderes ersetzt. Dar erkannte den Schauplatz: Das Militärlager im Feindesland. Taren rührte Grütze in einem Kessel um. Dann sah Dar sich selbst: Sie war staubbedeckt vom Tagesmarsch und schleppte einen Armvoll Feuerholz heran. Dann – dies war eine Erinnerung Tweas – verspürte sie eine Woge der Liebe. Sie war so heftig, dass Dar den Stein fallen ließ.

    Sie saß allein in der Großen Kammer und spürte Tweas Liebe noch immer. Für sie war ich ihre Mutter! Aus dem Blickwinkel des Kindes betrachtet, kam es ihr nicht unmöglich vor. Nun verstand Dar, wie Bedürfnis und Fantasie dazu geführt hatten. Sie hat es mir nie erzählt.
    Dar umfasste den Stein erneut und befand sich schon an einem anderen Ort.
    Es war dunkel. Sie – Twea – lag auf der Ladefläche eines Fuhrwerks und hatte sich unter einer grob gewirkten Decke versteckt. Sie hörte Rufe und Schreie, die einfach grauenhaft klangen. Waffen klirrten. Sie hatte große Angst und verspürte nichts als Entsetzen. Wann kommt Dar zurück? Sie hat doch gesagt, sie nimmt mich mit.
    Am Heck des Fuhrwerks ertönten leise klopfende Geräusche. Da stöhnte jemand. Dar erkannte die Geräusche, doch Twea wusste nicht, was sich dort tat. Jemand wurde von Pfeilen durchbohrt. Taren wurde gerade umgebracht, dachte Dar und wappnete sich, weil sie wusste, was nun kam. Trotzdem hielt sie den Stein fest und erlebte Tweas letzte Erinnerungen mit.
    Die Decke wurde beiseitegerissen.
    »Dar?« Nicht Dar. Söldner. Erst an diesem Morgen hatte sie ihnen Grütze serviert. Einer spricht.
    »Nee, Vögelchen. Dar soll verwundet sein. Wir sollen dich zu ihr bringen. Wo genau steckt sie?«
    »Ich weiß es nicht! Sie hat gesagt, ich soll hier warten!«
    »Ganz bestimmt, Vögelchen? Dar ist wirklich schwer verwundet. Sie braucht dich. Und zwar jetzt.«
    »Ich weiß nicht, wo sie ist! Ich weiß es nicht!«
    Schluchzen.
    »Die bringt uns nicht weiter«, sagte ein Söldner. »Bringen wir sie zu Kol?«

    »Nee«, sagte der andere »Er will nur Dar haben. Er hat gesagt, macht’s hier.«
    Eine Schwertklinge blitzt auf. Es fühlt sich wie eine Brandwunde an. Es steckt in meiner Brust! Blut! Mein Blut! Es brennt. Zunehmende Dunkelheit. Brennen. Nichts.
    Der Trancestein fiel Dar erneut aus der Hand. Der Schmerz blieb jedoch in ihrem Brustkorb zurück. Es war nicht der Schmerz des Schwerthiebs, sondern eine Pein, die nicht weniger wehtat. Dar heulte vor Trauer und Wut auf. Dann verdrängte ihre Wut den Schmerz. Sie färbte die Finsternis rot.
    »Kol!«, schrie sie. »Kish washavoki!« Washavoki-Abschaum! »Da dava-tak fer!« Du hast sie umgebracht!

32

    OBWOHL KOVOK-MAH sich nach Dar verzehrte, gefiel ihm das Kasernenleben besser als das im Palast. Zwei Baracken waren für die Ork-Leibwache renoviert worden. Aufgrund des nun runden Raumes fühlten er und seine Kameraden sich heimischer; außerdem gab es in den Quartieren ordentliche Feuerstellen, deren Rauch durch ein Deckenloch abzog. Schilfmatten bedeckten den Erdboden. Die groben Wände waren nun verputzt. Holztüren ersetzten die Vorhänge. Und was noch besser war: Eine Baracke war umgebaut worden, zu einem Bad mit Fliesenboden, einem gemauerten Schwimmbecken und allen erforderlichen Mitteln, um Badewasser zu erhitzen. Sogar die Verpflegung war etwas besser geworden. Sie wurde weiterhin

Weitere Kostenlose Bücher