Herz aus Glas (German Edition)
holte mich damit aus meinen Gedanken. Er sah ein bisschen beleidigt aus. »Ich sagte: Massenpsychose. Das klingt vernünftig. Ich lese mich mal ein bisschen schlau und dann spreche ich mit Jason. Vielleicht gibt es ja irgendwas, das diese Dinge erklärt, ein Bodenbelag, der giftige Dämpfe ausdünstet oder so.« Er hatte einmal in einen seiner Romantic-Thriller genau diese Erklärung für eine beginnende Psychose seiner Hauptfigur eingebaut. Ich erinnerte mich daran, dass ich das damals ziemlich dünn gefunden hatte.
»Mach das«, sagte ich trotzdem achselzuckend.
Nachdem mein Vater mich allein gelassen hatte, wurde mir so langweilig, dass ich nörgelig wurde, und gegen zwanzig Uhr erlaubte Taylor mir endlich aufzustehen, ermahnte mich aber, David schlafen zu lassen. Ich erklärte ihr, dass ich kein kleines Kind war, dem man solche Dinge noch sagen musste, aber sie nickte nur.
»Schone dich noch ein bisschen. Das, was du mitgemacht hast, war nicht von Pappe.«
Ich versprach es ihr.
Ich ging als Erstes in mein Appartement zurück. Grace hatte auf den Gängen des Gästehauses überall Kerzen aufgestellt und ich fragte mich, ob man hier keine Angst vor einem Feuer hatte. Immerhin war Sorrow schon einmal abgebrannt. Das warme Licht der vielen kleinen Flammen verstärkte den antiquierten Eindruck noch, den das ganze Anwesen sowieso schon machte. In meinem Appartement brannten die Kerzen natürlich nicht, aber es lagen mehrere Feuerzeuge herum. Ich zündete einige der Kerzen an und eine stellte ich auf den Nachtschrank neben meinem Bett.
Rebecca lag darauf, aufgeschlagen und mit den offenen Buchseiten nach unten. Ich zögerte, es zu berühren. Gab es Geisterbücher, die auftauchten und wieder verschwanden, wie es ihnen beliebte?
Ich gab mir selbst einen Klaps gegen die Stirn. Es waren fast vierundzwanzig Stunden vergangen, seitdem ich in meinem Bett gesessen und gelesen hatte. Inzwischen hatte Grace vermutlich sogar zweimal bei mir geputzt, immerhin war ja das Bett gemacht und sogar frisch bezogen, wenn ich es richtig sah. Vermutlich war mir das Buch im Schlaf aus der Hand gefallen und auf die Erde gerutscht, wo Grace es gefunden hatte. Und da sie die aufgeschlagene Seite nicht verblättern wollte, hatte sie es verkehrt herum auf den Nachtschrank gelegt.
Das war eine überaus vernünftige Erklärung, fand ich.
Ich nahm das Buch an mich. Schlug die erste Seite auf.
Und ließ es vor Schreck fallen.
Die Seite! Sie war leer!
Fassungslos bückte ich mich und hob das Buch wieder auf. Hastig blätterte ich es durch. Ich hatte mich nicht getäuscht. Charlies Name auf der ersten Seite war verschwunden. Und ebenso die fliederfarbenen Unterstreichungen, die sie gemacht hatte!
D as Buch vor die Brust gepresst, rannte ich über den Marmorplattenweg zum Haupthaus hinüber, um Grace zu suchen. Ich würde sie jetzt endlich zur Rede stellen und ihr verbieten, mein Appartement noch einmal zu betreten! Als ich das Haupthaus erreichte, wäre ich beinahe mit einer älteren Frau zusammengestoßen, die eine ganz ähnliche Dienstmädchenuniform trug wie Grace sonst. Sie schien Mexikanerin zu sein, jedenfalls ihrem Aussehen nach zu urteilen. Als sie mich sah, lächelte sie mir schüchtern zu.
»Wissen Sie, wo Grace ist?«, fragte ich sie, ohne darauf einzugehen, dass ich sie hier noch nie zuvor gesehen hatte.
Sie zögerte. Dann schüttelte sie den Kopf. »Grace ist nicht da, Miss. Sie musste gestern Abend überraschend weg. Ich bin ihre Vertretung.« Sie machte allen Ernstes einen Knicks vor mir! »Mein Name ist Jolanda. Wenn Sie etwas brauchen, sagen Sie einfach mir Bescheid, ja?«
Ich fühlte mich wie vor den Kopf gestoßen. Das Buch in meiner Hand wog Tonnen. Ich hob es ein wenig in die Höhe, sodass Jolanda einen Blick darauf werfen konnte. »Haben Sie dieses Buch in mein Zimmer gelegt?«
Jolanda zog überrascht die Augenbrauen hoch. »Nein, Miss. Ist etwas damit nicht in Ordnung?« Sie machte Anstalten, mir das Buch aus der Hand zu nehmen, aber ich zuckte zurück.
»Nein!« Meine Stimme hatte einen leicht panischen Unterton. Grace war fort? Seit gestern Abend schon? Wie war dann das Buch wieder auf meinen Nachtschrank gekommen? Was ging hier vor? Ich versuchte, mich zu beruhigen und nach einer vernünftigen Erklärung für diese Entwicklung zu suchen, aber es ging irgendwie nicht. Ich fühlte mich paranoid und konnte nichts dagegen tun.
Jolanda sah ein wenig beunruhigt aus. »Geht es Ihnen gut, Miss? Sie sind ganz
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