Herz aus Glas (German Edition)
blass!«
Ich atmete einmal tief durch, dann nickte ich. Mein Blick fiel auf die Treppe, die ins Obergeschoss führte. Es war mir völlig egal, ob David schlief oder wach war, und es war mir auch egal, ob Taylor mich für kindisch halten würde, wenn sie erfuhr, dass ich ihn gestört hatte: Ich musste mit ihm reden. Und zwar sofort!
Ich ließ Jolanda stehen und hastete die Treppe hinauf. Ich hatte die Hand bereits erhoben, um an Davids Zimmertür zu klopfen, als Jolanda von unten hinter mir herrief: »Er ist wach. Er ist vor ein paar Minuten in die Gemächer seiner Mutter gegangen.« Sie wies auf die Tür zwischen den beiden Liliensträußen.
Ich dankte ihr. Dann trat ich vor die Tür hin und klopfte leise.
»Herein!« Davids Stimme klang nur gedämpft.
Ich umklammerte das Buch fester, öffnete die Tür einen Spaltbreit und schlüpfte hindurch. Drinnen war es düster, denn hier gab es keine Kerzen. Nur ein kleines Feuer im Kamin brannte und eine schmale Mondsichel schien zu einem der Fenster herein.
David saß auf dem abgedeckten Sofa. Er hob den Blick von einer Stelle zwischen den beiden bodentiefen Fenstern, die ich von der Tür aus nicht sehen konnte. Als er mich erkannte, erhellte sich seine Miene schlagartig. »Juli! Du bist auf!« Er erhob sich und kam mir entgegen.
»Grace ist weg?« Ich sagte es als Frage.
David nickte ernst. »Ich habe dafür gesorgt, dass sie sich ein paar Tage freinimmt.« Er wirkte ähnlich grimmig wie gestern, als er mir versprochen hatte, dafür zu sorgen, dass Grace mich nicht mehr belästigte.
Zögernd trat ich einen Schritt näher und einer inneren Eingebung folgend verbarg ich dabei das Buch hinter meinem Rücken.
»Wenn es nach mir gegangen wäre«, fügte David ruhig hinzu, »hätte Dad sie entlassen, aber so geht es vermutlich auch erst mal.«
Ich schauderte, weil er so kühl klang. Plötzlich schien mir alles, was ich zuvor gedacht hatte, so irrational. Verrückt. Völlig verrückt.
Grace war fort. Sie konnte das Buch also nicht zurück auf meinen Nachtschrank gelegt haben, aber es gab mit Sicherheit eine andere Erklärung für sein rätselhaftes Verschwinden und seine Wiederkehr und auch dafür, dass Charlies Name plötzlich fort war. Oder? Ich wusste nicht mehr, was ich denken sollte.
David bemerkte meine Verwirrung. »Was hast du?«
Aber bevor ich es ihm sagen konnte, fügte er hinzu: »Komm! Setz dich doch zu mir.« Er wies auf das Sofa. Ich setzte mich, hob den Blick und vor Schreck blieb mein Herz beinahe stehen. Der Gegenstand, auf den David gestarrt hatte, als ich hereingekommen war! Es war ein Bild. Zwischen den beiden Fenstern lehnte es an der Wand, als gehöre es eigentlich nicht hierher. Der Schein des Feuers erleuchtete es gerade ausreichend, sodass man das Motiv erkennen konnte.
Es war das Bild einer jungen Frau in einem langen blutroten und hinten tief ausgeschnittenen Kleid. Sie hatte dem Maler den Rücken zugewandt, aber sie warf einen koketten Blick über ihre eigene Schulter, sodass man einen Teil ihres Dekolletés sehen konnte und auch ihr makelloses Gesicht. Ihre langen schwarzen Haare waren zu einer kunstvollen Frisur gelegt und mit einem Haarnetz bedeckt. Ihr Blick hatte etwas Feuriges und gleichzeitig Triumphierendes.
»Charlie!«, murmelte ich.
Die schöne, fantastische, unglaublich talentierte und liebenswürdige Charlie. Sämtliche Attribute, die ich über sie zu hören bekommen hatte, schien dieses Gemälde einzufangen.
Über Davids Gesicht glitt ein Schatten.
»Du willst wissen, warum ich hier sitze und das Bild anstarre«, sagte er.
Eigentlich war ich wegen des Buches gekommen, aber trotzdem konnte ich in diesem Moment nur nicken. Charlies Blick lag auf mir und durchdrang mich bis zum tiefsten Punkt meiner Seele. Ich fühlte mich so unwohl, als wäre sie tatsächlich und wahrhaftig hier bei uns.
David schloss die Augen, bevor er zu sprechen begann. »Mein Vater hat das Bild anfertigen lassen …«
»Von Henry!«, vermutete ich, doch David schüttelte den Kopf.
Er öffnete die Augen wieder. »Ich weiß nicht, von wem. Henry malt ganz anders, das hast du doch gesehen. Das hier ist nicht sein Stil!«
Er hatte recht. Henrys Bilder waren mit Pastellkreiden oder in Acryl gemalt, dieses hier jedoch war ein Ölgemälde. Es sah völlig anders aus als alles, was Henry gemacht hatte.
Unschlüssig lege ich eine Hand auf das Buch. Ich hatte es auf der von David abgewandten Seite neben mich gelegt und es war so düster im Raum, dass er es
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