Herz aus Glas (German Edition)
schwachen silbrigen Schimmer, den er in das Zimmer warf.
Das Glas mit Milch sah in diesem Licht eigenartig geheimnisvoll aus. Ich starrte es an und konnte allein den Anblick nicht mehr ertragen. Ich nahm es, brachte es ins Bad und leerte seinen Inhalt ins Waschbecken, dann sah ich zu, wie ein Großteil der weißen Flüssigkeit im Abfluss verschwand. Und genau in diesem Moment wurde mir schlagartig so schlecht, dass ich es nur mit Mühe und Not zur Toilette schaffte, bevor ich mich übergeben musste.
Ich erwachte, weil ich Davids Stimme gehört hatte, die verzweifelt meinen Namen flüsterte. Sonderbarerweise wusste ich sehr genau, dass ich nur geträumt hatte. In meinem Traum hatten David und ich oben auf den Klippen gestanden und hinunter in die Brandung gesehen, wo Charlie gelegen hatte. Ihr langes rotes Kleid bewegte sich in den Wellen. Es sah aus, als wallten blutige Schleier durch das Wasser. Charlies Augen waren offen, und obwohl sie sich sechzig, siebzig Meter unter uns befand, wusste ich, dass sie mich ansah. Ich hörte ein Lachen, das jedoch nicht von ihr kam, sondern von jemandem hinter mir. Ich drehte mich um.
Madeleine stand auf dem Pfad und bedeutete mir, ihr zu folgen.
Ich gehorchte willenlos. Wie ferngesteuert ging ich los, doch irgendwas wollte mich zurückhalten. Verzweifelt überlegte ich, was es war, bis mir einfiel, dass David noch da war, dass ich ihn nicht allein auf den Klippen lassen durfte. Ich wehrte mich gegen den hypnotischen Sog, den Madeleine ausübte. Ich stemmte mich dagegen, drehte und wand mich – und endlich gelang es mir, mich daraus zu befreien.
Ich fuhr herum. Nur, um zu begreifen, dass es zu spät war.
David stand am Rand der Klippen und blickte in die Tiefe.
»Charlie!«, flüsterte er. Seltsamerweise hatte ich keine Probleme, ihn zu verstehen.
Dann machte er einen Schritt nach vorn. Und fiel.
Auf seinen Lippen war nur ein einziges Wort.
»Juli!«
Das war der Moment gewesen, in dem ich erwacht war.
Jetzt rutschte ich in meinem Bett ein Stück nach oben und lehnte mich mit dem Rücken gegen die Wand.
»Juli!« Die Stimme einer Frau.
Ich erstarrte. Voller Panik wanderte mein Blick zum Fenster – es war geschlossen! Ich hatte diese wispernde Stimme bisher nie bei geschlossenem Fenster gehört, hatte gehofft, dass ich hier drinnen sicher sein würde, doch offensichtlich war das ein Irrtum gewesen.
»Juli!«, wisperte die Stimme erneut.
»Ja?« Ich konnte nicht anders. Ich musste antworten. Vor Angst und Entsetzen fühlte ich, wie ich zusammenschrumpfte, bis ich nur noch so groß war wie eine Maus.
»Du weißt, dass er dich nicht liebt, oder?«
Ich schüttelte den Kopf. »Du … du kriegst mich nicht …« Ich knirschte mit den Zähnen, aber dann stieß ich hervor: »… Madeleine!«
»Wer hat dir gesagt, dass ich Madeleine bin?«
Ich hob eine Faust zum Mund und biss in den Knöchel meines Zeigefingers.
»Ich bin nicht Madeleine, Juli!«
»Hör auf!«, kreischte ich. »Lass mich endlich in Ruhe!«
Aber die Stimme lachte nur. »Komm, Juli. Es wird Zeit zu springen!«
In einem Anfall von Angst und wildem Trotz schoss ich aus dem Bett und lief los. Aus meinem Zimmer, den Flur entlang und unten aus der Haustür hinaus auf den feuchten Rasen zwischen Gäste- und Herrenhaus. Angefüllt mit Panik und Zorn drehte ich mich einmal um die eigene Achse. »Wo bist du?«, schrie ich. »Zeig dich!«
Irgendwo beim Herrenhaus wurde ein Fenster geöffnet.
»Zeig dich!« Ich rannte über den Rasen, von einer Seite zur anderen, von rechts nach links, bis ich nicht mehr konnte, bis der Schwindel und die Übelkeit mich zu überwältigen drohten. Schwer atmend blieb ich stehen.
»Zeig dich endlich!« Jetzt flüsterte ich nur noch.
»Juli?« Es war David, der plötzlich neben mir stand. »Um Himmels willen!« Er wollte mich anfassen, aber ich schrie nun auch ihn an.
»Das Buch!«
Er wurde bleich. »Was für ein Buch, Juli?«
»Das in meinem Zimmer!« Ich rannte ein paar Schritte in Richtung Gästehaus, verlor die Orientierung, kam zurück. Ermattet deutete ich hinter mich. »Das Buch in meinem Zimmer. Es ist wieder da, David!« Ich schluchzte vor Schrecken. »Rebecca!«
»Rebecca …« In Davids Stimme schwang Entsetzen mit. »Wir haben es verbrannt, Juli!«
Da packte ich ihn bei der Hand. »Komm mit!«, fauchte ich und zerrte ihn hinter mir her. Ich zog ihn ins Gästehaus, in mein Appartement, in mein Schlafzimmer.
»Da liegt es!«, rief ich und deutete auf den
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