Herz aus Glas (German Edition)
hier ausgiebig nachzuholen. Ich wusch und föhnte mir die Haare, und als ich in mein Schlafzimmer ging, hatte ich immer noch mehr als eine halbe Stunde Zeit. Beim Anziehen fiel mein Blick durch die Balkontür hinunter auf den Rasen vor dem Gästehaus.
Taylor saß auf der kleinen Bank, auf der ich neulich nachts David hatte sitzen sehen. Sie hielt sich selbst mit den Armen umschlungen und sogar über die Entfernung hinweg konnte ich erkennen, dass sie weinte.
Rasch schlüpfte ich in Jeans und Sweater. Dann öffnete ich die Balkontür und trat ins Freie. Taylor bemerkte mich nicht. Ich zögerte.
Sollte ich zu ihr gehen und meine Hilfe anbieten?
Sie begann, sich selbst vor- und zurückzuwiegen wie jemand, der völlig verzweifelt war, und das gab den Ausschlag. Ich schnappte mir meine Jacke und rannte nach unten.
Als ich jedoch zu der Bank kam, war sie leer. Taylor war aufgestanden und davongegangen. Eilig schaute ich mich um, und tatsächlich: Ich entdeckte sie gerade noch, wie sie auf dem Pfad verschwand, den David und ich an meinem allerersten Tag hier auf Sorrow gegangen waren.
So schnell ich konnte, lief ich hinter ihr her.
Ich fand sie unter dem Baum, unter dem David und ich bei dem Regen Schutz gesucht hatten. Sie starrte ziellos in Richtung Ozean. Ich räusperte mich leise, um sie nicht zu erschrecken.
Sie wandte sich zu mir um. »Juli! Ich habe dich gar nicht kommen gehört.« Hastig wischte sie sich die Tränen von den Wangen.
Ich lächelte sie tröstend an. »Ich habe dich unten auf der Bank gesehen und dachte, du könntest vielleicht jemanden gebrauchen …« Ich ließ den Rest des Satzes in der Luft hängen.
Sie ergänzte ihn für mich. »… zum Reden, meinst du?« Ein trauriges Lächeln erhellte ihr Gesicht für eine paar Sekunden. »Ja. Das wäre zur Abwechslung mal eine gute Idee.« Sie wies auf den Pfad und gemeinsam gingen wir ihn entlang, während sie nach den passenden Worten suchte.
»Ich habe dir doch erzählt, dass ich hier auf der Insel bin, weil ich auf eine Nachricht warte«, begann sie langsam und zögernd.
Ich nickte.
»Heute ist diese Nachricht gekommen«, erklärte sie mir.
Wir umrundeten ein paar Findlinge. Vor uns war der Weg von einer riesigen Pfütze überschwemmt, sodass wir nicht weiterkamen. »Lass uns hier langgehen«, schlug Taylor vor. Rechts ging ein winziger Trampelpfad ab, der mir zuvor noch nie aufgefallen war. Tiere schienen ihn geschaffen zu haben und er schlängelte sich durch das Dornen- und Ginstergebüsch, sodass wir für einige Zeit hintereinanderher gehen mussten. Als der Pfad zurück auf den Weg mündete, schloss Taylor, die die ganze Zeit hinter mir gegangen war, wieder zu mir auf. »Ich habe sie wiedergefunden«, sagte sie mit einem wehmütigen Ton.
»Sie?« Ich wusste nicht, was sie meinte.
Taylor griff in einen der Büsche und riss einen kleinen Zweig ab. Ich musste daran denken, dass David bei unserem ersten Spaziergang dasselbe getan hatte. Während Taylor den Zweig nachdenklich zwischen den Fingern drehte, erzählte sie: »Ich war noch ziemlich jung. Da wurde ich schwanger. Fast zwanzig Jahre ist das jetzt her.« Sie hielt inne, sah mich an, als warte sie darauf, dass ich etwas sagte.
Ich wusste nicht, was, also redete sie weiter. »Ich habe die Insel in einer Nacht-und-Nebel-Aktion verlassen. Lange Jahre wusste niemand, dass ich fortgegangen war.«
Und jetzt begriff ich, worauf sie hinauswollte. In meinem Kopf gab es einen kleinen Knall. Es fühlte sich an, als sei etwas entzweigerissen, das mir zuvor den Blick auf die Tatsachen verstellt hatte. »Du warst die schwangere Zwanzigjährige!«, entfuhr es mir. »Die Frau, von der alle denken, dass sie über die Klippen gegangen ist!«
Taylor nickte betrübt. »Ich wusste lange Jahre nicht, dass man das hier glaubte. Ich hatte keine Familie, weil meine Eltern kurz zuvor gestorben waren. Und auch kaum Freunde. Als ich fortging, dachte ich darum, niemand würde mich vermissen.«
Das hatte auch niemand getan, überlegte ich mit einem Anflug von Traurigkeit. Weil alle gedacht hatten, dass sie gesprungen war.
»Sie haben dich als Letztes auf den Klippen gesehen«, sagte ich.
»Ja. Ich habe mich damals sehr für die Legende interessiert. Ich wollte mich von Madeleine verabschieden.« Taylor lächelte etwas peinlich berührt und ich wusste, dass ihre Worte nicht bedeuteten, dass sie wirklich an den Geist glaubte. Es war mehr ein Abschiednehmen von der Insel gewesen, vermutete ich. Sie war
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