Herz aus Glas (German Edition)
hatten, war ich für den Rest des Nachmittags in meinem Zimmer geblieben und hatte gelesen. Ziemlich schlecht gelaunt war ich anschließend zum Abendbrot in das Speisezimmer gegangen, aber die Tatsache, dass außer mir, Jason und David auch Henry und sogar mein Vater anwesend waren, hatte meine Laune ein wenig gebessert. Mein Vater hatte den anderen erzählt, dass ich eine seit Langem geplante Silvesterparty mit meinen Freunden hatte sausen lassen, um auf die Insel kommen zu können. Und Henry hatte daraufhin gemeint, dass ein ehemaliger Schulkamerad von David an diesem Abend eine spontane Poolparty veranstaltete. Er hatte vorgeschlagen hinzugehen, als Ausgleich sozusagen. David hatte zunächst nicht besonders begeistert ausgesehen, aber nachdem Jason ihm einen mahnenden Blick zugeworfen hatte, hatte er mich gefragt, ob ich gern hingehen würde. Und in einem Anflug von geistiger Umnachtung hatte ich Ja gesagt.
Nun saßen wir zu dritt in Henrys zitronengelbem Sportwagen und fuhren die lange gewundene Auffahrt von Sorrow entlang. Bei Henrys halsbrecherischer Fahrweise war ich die meiste Zeit über damit beschäftigt, mich am Türgriff festzuklammern. Um mich von den Bildern abzulenken, die mir mein Gehirn vorgaukelte – wir alle mit zerquetschen Gliedern an einem Baum –, klappte ich die Sonnenblende herunter und stellte sie so ein, dass ich in dem kleinen Spiegel Davids Gesicht sehen konnte. Er hockte auf der winzigen Rückbank des Wagens und wirkte genervt. Seine Nasenflügel blähten sich, wenn er Luft holte, und seine Hände lagen zu Fäusten geballt auf seinen Oberschenkeln.
Ich hätte mich ohrfeigen können. Warum nur hatte ich behauptet, zu dieser Party zu wollen? Wenn ich das nicht getan hätte, hätten wir alle jetzt gemütlich auf Sorrow sitzen und so tun können, als sei alles gut. Stattdessen rasten wir auf den schmalen Straßen von Martha's Vineyard zu einer Schickimicki-Veranstaltung, zu der von uns dreien wahrscheinlich nur Henry wirklich Lust hatte.
Hätte ich in diesem Moment schon geahnt, in was für einer Katastrophe das Ganze ausarten würde, hätte ich mir auf dieser Fahrt nicht nur auf die Zunge gebissen, sondern wahrscheinlich vor Nervosität sämtliche Nägel abgekaut.
Henrys Haus lag in der Nachbarschaft – was auf Vineyard bedeutete, dass man von ihm aus zu Fuß über kleine Trampelpfade in einer Minute auf Sorrow war, mit dem Auto wegen der lang gezogenen Auffahrten und der Landstraße dazwischen jedoch knapp eine Viertelstunde brauchte. Da Henry sich noch für die Party umziehen wollte, bekam ich Gelegenheit, mir anzusehen, wie er wohnte. Sein Haus schien früher eine Scheune gewesen zu sein – das Erdgeschoss bestand aus einem einzigen, riesigen Raum, dessen Fußboden mit teuer aussehenden Terrakottafliesen ausgelegt war und an dessen weiß gekalkten Wänden Dutzende von Aquarellen hingen.
»Wow!«, entfuhr es mir, kaum, dass ich durch die Eingangstür getreten war. Ich kam mir vor wie in einem Museum.
Henry grinste mich an. »Sieh dich ruhig um!«, schlug er vor. »Ich komme sofort wieder.« Er wandte sich an David. »Du weißt ja, wo alles ist. Fühlt euch wie zu Hause.« Er steuerte auf eine Holztreppe zu, die ins obere Stockwerk führte, und verschwand oben hinter einer Tür.
Etwas befangen von der Atmosphäre dieses loftartigen Hauses stand ich da. Eine Wand war bedeckt mit großformatigen Aquarellen in verschiedensten Blau- und Grüntönen. Das Bild, das genau auf meiner Augenhöhe hing, zeigte ein aufgewühltes Meer mit Wellen, die sich schäumend an scharfkantigen grauen Felsen brachen. In Boston gab es eine ganze Reihe von Läden und Galerien, die Ostküstenmalerei verkauften, und ich kannte die üblichen Motive – Schiffe, Leuchttürme und Strandgut – zur Genüge. Doch dieses Bild war anders: Es besaß nichts Harmonisches, Kitschiges, ganz im Gegenteil. Es strahlte eine düstere Bedrohung aus, die ich mir auf den ersten Blick nicht erklären konnte. Erst bei genauerem Hinsehen erkannte ich den Grund: die Schaumkronen auf den Wellen! Sie sahen aus wie gefletschte Zähne. Ich rümpfte die Nase und wandte mich lieber dem nächsten Bild zu.
Ein Stück Treibholz und ein paar Muscheln. Eigentlich völlig harmlose Gegenstände, aber auch hier verspürte ich ein unterschwelliges Unbehagen. Es war, als ging von dem Bild eine dumpfe Mahnung aus. Ein kleines Messingschildchen war direkt darunter angebracht und nannte den Namen des Bildes.
Memento moriendum esse – Bedenke,
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