Herz aus Glas (German Edition)
griff nach meinen Haaren und zerrte daran. Ich wagte einen Blick über die Ballustrade nach unten und musste schlucken, weil mir schwindelig wurde. Die Tiefe schien mich magisch anzuziehen. Ich griff nach dem Geländer.
David warf mir einen Seitenblick zu und starrte dann weiter nach unten. »Er glaubt, dass er mich dadurch vom Springen abhält«, flüsterte er mit rauer Stimme.
Meine Kehle wurde eng vor Angst. Ich unterdrückte den Wunsch, ihn am Arm zu fassen und von der Brüstung fortzuziehen. Fieberhaft suchte ich nach den passenden Worten, aber er kam mir zuvor.
»Ich habe Angst«, murmelte er.
Ich schluckte schwer. »Wovor?«
»Angst davor, dass Madeleine am Ende siegt.«
Ein eisiger Schauer kroch mir über den Rücken. Ich suchte Taylors Blick, aber sie zuckte nur mit den Achseln. Ihre Augen glitzerten verräterisch.
»David!« Ganz leise sagte ich seinen Namen.
Seine Schultern versteiften sich. »Lasst mich doch einfach alle in Ruhe!«, murmelte er und er klang dabei so verloren, dass nun auch mir die Tränen kamen.
E isig schlug mir der Wind ins Gesicht, versuchte, mich am Luftholen zu hindern und sich mir in den Weg zu stemmen. Doch ich gab nicht auf. Meine Beine bewegten sich wie von selbst, in einem schnellen Rhythmus trommelten meine Füße auf den gefrorenen Boden und mein Atem kam stoßweise, vermischt mit gelegentlichen Schluchzern, die ich nicht unterdrücken konnte.
Ich rannte.
Nachdem Taylor mich kurz zuvor aus Davids Zimmer geführt und leise die Tür hinter uns geschlossen hatte, war ich so voller Anspannung gewesen, dass ich mir meine Sportklamotten angezogen hatte und losgelaufen war. Jetzt befand ich mich auf einem Rundkurs um den Menemsha Pond, eine Art Lagune, von denen es auf der Insel Dutzende gab. Ich kam an mehreren Ferienhäusern vorbei, die zu dieser Jahreszeit jedoch alle unbewohnt waren. Das Wasser zu meiner Linken sah grau aus, ein paar Möwen schwammen darauf und schaukelten leicht auf den kleinen Wellen, die der Wind verursachte. Ein einsames Boot lag als schneeweißer Fleck unter dem trüben Himmel und sein Segel knatterte hörbar. Doch all das bemerkte ich nur am Rande, weil meine Gedanken um David kreisten.
Irgendwann erreichte ich einen kleinen Ort namens Chilmark, der nur aus wenigen Häusern bestand. Am Ende der Straße befand sich eine kleine Buchhandlung und vor ihrem mit den aktuellen Bestsellern vollgestopften Schaufenster blieb ich stehen.
Ob sie hier Bücher über die Insel hatten? Bücher, aus denen ich mehr über diese Madeleine Bower und ihren bescheuerten Fluch erfahren konnte? Bestimmt, denn es war ganz offensichtlich eine Touristenbuchhandlung und in denen gab es eigentlich immer ein Regal mit Werken zur lokalen Geschichte. Gerade als ich mich fragte, wann der Laden wohl öffnete, trat von innen eine dickliche Frau an die Tür und schloss sie auf.
»Oh«, sagte sie. »Ich habe gar nicht gesehen, dass Sie schon hier draußen warten! Mein Name ist Rachel. Kommen Sie ruhig herein und schauen Sie sich schon mal um. Ich räume unterdessen die Auslagen raus.« Sie machte mir Platz, um mich in den kleinen Laden zu lassen. Ein langer dunkelgrüner Rock schwang um ihre Knöchel und darüber trug sie eine weit fallende weinrote Tunika, die ihre Körperfülle eher betonte als verbarg. An ihren Fingern steckten mehrere dicke Silberringe, Indianerschmuck, wie er hier in der Gegend verkauft wurde. Als ich mich an ihr vorbei durch die Tür zwängte, roch ich ihr Parfüm. Irgendwas Schweres mit viel Patschuli. Unauffällig rieb ich mir die Nase, um nicht niesen zu müssen.
»Haben Sie Bücher über die Geschichte der Insel?«, fragte ich.
»Natürlich!« Sie schien begeistert, dass sie mir helfen konnte. Mit ausgestrecktem Arm wies sie auf ein Regal links von der Eingangstür, in dem Bücher der verschiedensten Größen und Preisklassen standen. An ihrem Handgelenk baumelte ebenfalls Silberschmuck, der bei jeder Bewegung leise klirrte.
Ich bedankte mich und trat vor das Regal. Während Rachel ihre Auslageware nach draußen räumte, nahm ich mehrere Titel in die Hand und suchte nach Informationen über die City of Columbus . In zwei verschiedenen Büchern fand ich etwas, aber alles, was ich aus den eher allgemein gehaltenen Texten erfuhr, wusste ich längst: dass das Schiff 1884 vor der Insel auf ein Riff gelaufen und gesunken war. Dass nur Männer überlebt hatten, während alle Frauen und Kinder an Bord entweder ertrunken oder in den eisigen Fluten erfroren
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