Herz aus Glas (German Edition)
stillen Nächten aber, wenn ich wach liege und über alles nachgrübele, ist es einfach zu glauben, dass Madeleine selbst mich zu dem Buch geführt hat. Vielleicht wollte sie tatsächlich, dass ich ihren Fluch breche …
Als ich aus Rachels Laden ins Freie kam und den Heimweg antreten wollte, hörte ich eine freudige Stimme meinen Namen rufen.
»Juli! Huhu!«
Ich drehte mich um und sah Crystal, Charlies beste Freundin, auf der anderen Straßenseite aus der Einfahrt eines zweistöckigen Wohnhauses treten. Sie winkte heftig, damit ich auch ja nicht übersah, dass sie mich meinte.
Ich warf einen bedauernden Blick auf die Papiertüte in meiner Hand. Eigentlich hatte ich vorgehabt, so schnell wie möglich nach Sorrow zurückzukehren, aber wie es aussah, würde daraus fürs Erste nichts werden. Crystal vergewisserte sich mit zwei raschen Blicken nach rechts und links, dass kein Auto kam, dann rannte sie über die Straße auf mich zu. Sie strahlte mich an, als seien wir uralte Freundinnen, die sich seit einer halben Ewigkeit nicht mehr gesehen hatten. Vielleicht konnte sie ja ganz nett sein, wenn man mit ihr alleine war, dachte ich.
Oder aber sie hatte vor, mich auszuhorchen.
Ich beschloss, auf der Hut zu sein. Als sie mich erreichte, erwiderte ich ihre rechts und links von meinen Wangen in die Luft gehauchten Küsschen mit einem Lächeln.
»Schön, dich zu treffen«, log ich.
Ihr Blick wanderte einmal an mir hoch und wieder runter und sie kommentierte meine Laufklamotten mit einem Stirnrunzeln. »Joggst du etwa?«, fragte sie. »Bei der Schweinekälte?« Sie selbst trug enge Jeans und hohe Winterstiefel und darüber eine teuer aussehende Daunenjacke, die mit Sicherheit auch in Aspen nicht besonders aufgefallen wäre. Ihre platinblonden Haare lagen in perfekten Wellen um ihr geschickt geschminktes Gesicht, in dem die Augen riesengroß wirkten.
Gegen sie kam ich mir unscheinbar und provinziell vor – besonders in meinem aktuellen Look.
»Ja«, antwortete ich. »Es gibt nur ein Wetter, das sich nicht zum Laufen eignet, und das ist ein Eissturm!« Mein Vater sagte das gern. Er war früher ein fast ebenso fanatischer Läufer gewesen wie ich, hatte vor anderthalb Jahren allerdings kürzertreten müssen, weil seine Kniesehnen nicht mehr mitgespielt hatten.
»Eissturm?« Crystal sah etwas sorgenvoll zum Himmel. »Es ist tatsächlich ein Eissturm angesagt, hast du das schon gehört?« Ich dachte daran, was mein Vater beim Frühstück gesagt hatte, aber Crystal gab mir keine Zeit zu antworten, sondern hakte sich bei mir ein. Ihr war eine Idee gekommen. »Hey! Hast du Lust auf einen Caffè Latte? Hier ganz in der Nähe ist ein süßes kleines Lokal, in das wir gehen und ein bisschen quatschen könnten.«
Ich schaute zweifelnd an mir herunter. Meine Schuhe und auch meine Hosenbeine waren schmutzig. Der Schweiß in meinen Klamotten war inzwischen zwar getrocknet, aber ich war alles andere als richtig angezogen für einen Cafébesuch.
Crystal deutete meinen Blick richtig. »Macht nichts!«, behauptete sie fröhlich. »Es ist noch früh, um die Zeit sind wir da die Einzigen. Du störst also niemanden in deinem Aufzug. Und wenn doch: Der Betreiber ist ein Cousin von mir, der schmeißt uns schon nicht raus!« Sie zwinkerte mir verschwörerisch zu. Mir war es unangenehm, wie vertraut sie tat.
Trotzdem zwang ich mich zu einem Grinsen, das hoffentlich begeisterter aussah, als ich mich fühlte. »Okay. Warum nicht?« Es konnte schließlich nicht schaden, sich auf der Insel ein paar Verbündete zu schaffen. Wenn David mich nicht hier haben wollte und alle anderen zu sehr mit sich beschäftigt waren, um sich um mich zu kümmern, würde ich eben selbst für Abwechslung sorgen.
Das Café war ein typisches Ostküstenlokal: eine mit weißem Holz verschalte Fassade, eine Veranda davor und in den Fenstern maritimes Kunsthandwerk. Beim Anblick der aus Muscheln und Strandgut gefertigten kleinen Skulpturen musste ich an Henrys gruseliges Bild mit dem Totenschädel denken.
Crystal betrat das Lokal so, wie Napoleon wahrscheinlich seine Schlachtfelder betreten hatte – laut, gut gelaunt und selbstbewusst. »Hey, Robin!«, begrüßte sie einen jungen, etwas pickelig aussehenden Mann, der hinter einem Tresen voller Kuchentabletts stand und sich zu langweilen schien.
Er lächelte sie strahlend an. »Hallo Crystal! Schön, dass du uns mal wieder besuchen kommst!« Sein Blick wanderte an ihr vorbei und fiel auf mich. Wenn er sich über meinen
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