Herz aus Glas (German Edition)
und hätte das Buch schon fast wieder zurück in die Kiste gestellt, als ich es, einer inneren Eingebung folgend, doch noch aufschlug.
Und beinahe fallen gelassen hätte.
Auf der allerersten Seite, dort, wo in fetten Buchstaben Titel und Autorin noch einmal wiederholt wurden, stand in fliederfarbener Tinte und in einer etwas schludrigen Mädchenhandschrift ein Name.
Charlie Sandhurst.
Ein Blick auf den mit Bleistift in den hinteren Deckel geschriebenen Preis sagte mir, dass Rachel 1,50 Dollar für das Buch haben wollte. Ich tastete in die Tasche meiner Laufhose. Zur Sicherheit nahm ich zum Joggen neben meinem Handy immer auch einen Zwanzigdollarschein mit – für den Fall, dass ich ein Taxi rufen musste oder sonst etwas Unvorhergesehenes passierte. Jetzt zog ich den Schein hervor und kehrte mit dem Buch in der Hand zurück in den Laden.
»Doch noch etwas gefunden?« Rachel freute sich unbändig. Sie warf einen Blick auf den Titel in meiner Hand. »Oh, das!« Ein Schatten flog über ihr Gesicht. »Das ist eine traurige Geschichte. Das Mädchen, dem dieses Buch vorher gehört hat, hat sich erst kürzlich umgebracht.«
»Charlie«, sagte ich. »Ich weiß. Kannten Sie sie?« Leichte Erregung ließ meine Haut kribbeln. Vielleicht würde ich hier etwas mehr über Charlie erfahren? Ich wagte es inzwischen allerdings kaum noch zu hoffen und zu meiner Enttäuschung schüttelte Rachel dann auch bedauernd den Kopf.
»Nicht besonders gut, fürchte ich. Das haben die Götter wohl verhindert. Charlie brachte mir aber öfter Bücher, die sie ausgelesen hatte und nicht behalten wollte.« Sie tippte auf das Exemplar in meiner Hand. »Das hier hat sie mir verkauft, einen Tag, bevor sie verunglückt ist.« Rachel schien diese Tatsache erst in diesem Augenblick bewusst zu werden. Ihre Augen wurden kugelrund und sie hob ihre beringte Hand an den Mund. »Wie schrecklich!« Sie verzog das Gesicht. »Wenn ich es recht überlege … Ach nein, das ist doch zu weit hergeholt!«
Das Kribbeln auf meiner Haut verstärkte sich noch einmal. »Was meinen Sie?«
Sie schüttelte den Kopf, aber dann siegte ihr Mitteilungsbedürfnis. »Es ist wahrscheinlich überhaupt nichts! Aber an dem Tag, an dem Charlie mir dieses Buch gebracht hat, wirkte sie sonderbar bedrückt.«
Ich krampfte die Hände um das Buch und spürte, wie sie vor Aufregung feucht wurden. »Wie meinen Sie das?«
»Gewöhnlich war sie bestens gelaunt und immer sehr freundlich. Aber an dem Tag … hm. Sie wirkte irgendwie traurig. Ich habe sie noch gefragt, was los ist, aber sie hat mir nicht geantwortet. Es ging mich ja auch nichts an, also habe ich nicht weiter nachgebohrt.« Ihr kam ein Gedanke, bei dem sie erneut die Hand vor den Mund schlug. »Oh ihr Götter! Meinen Sie, das Buch hat etwas damit zu tun, dass sie …«
»Ich glaube nicht«, behauptete ich und war froh darüber, dass Rachel zu sehr mit sich selbst beschäftigt war und mir die Lüge nicht von der Nasenspitze ablesen konnte.
Erleichtert lächelte sie. »Ah! Gut! Ich erinnere mich noch, dass ich sie gefragt habe, warum sie an dem Tag nur mit einem einzigen Buch kam. Sonst hat sie nämlich immer gewartet, bis sie eine ganze Kiste voll hatte. Sie sagte etwas wie: ›Das Ding möchte ich einfach nur loswerden!‹« Rachel musterte mich. »Das sagt Ihnen was, oder?«
Ich löste eine Hand von dem Buch und wischte sie mir an der Hose ab. Konnte es sein, dass der Zufall mir einen Hinweis darauf in die Hände gespielt hatte, was mit Charlie geschehen war? Wenn es stimmte, was Rachel sagte, dann war Charlie nur einen Tag, nachdem sie dieses Buch hatte loswerden wollen, gestorben. Abgestürzt.
Oder gesprungen.
Ich starrte auf das Bild des brennenden Herrenhauses auf dem Cover. Konnte es sein, dass Rebecca mir verraten würde, was wirklich geschehen war?
Vor lauter Aufregung war mir jetzt fast übel. Ich gab Rachel das Buch, bezahlte es und sah zu, wie sie es in eine kleine Papiertüte steckte.
»Bitte sehr!«, sagte sie feierlich. »Werden Sie wenigstens glücklich damit!«
Ich nahm es wieder an mich. In meinen Händen fühlte es sich fast ein wenig an wie ein Schatz.
Ein Schatz, auf den ich völlig unerwartet gestoßen war.
Wenn ich heute darüber nachdenke, wie es passieren konnte, dass ich in der kleinen Buchhandlung ausgerechnet über Charlies Ausgabe von Rebecca stolperte, dann frage ich mich manchmal, ob nicht doch die Götter, die Rachel mehrfach angerufen hatte, ihre Hände im Spiel gehabt haben. In
Weitere Kostenlose Bücher