Herz aus Glas (German Edition)
Tablett ein wenig in die Höhe. »Miss Taylor hat mich gebeten, Ihnen das hier zu bringen. Sie meint, Sie könnten dann besser schlafen!«
Die Milch in dem Glas fing einen Lichtstrahl der Deckenbeleuchtung ein und schimmerte bläulich.
»Danke«, murmelte ich. »Bitte stellen Sie es auf meinen Nachtschrank.«
»Sehr wohl!« Grace ging zum Bett hinüber. »Kann ich sonst noch etwas für Sie tun, Miss Wagner?«
Ja, dachte ich. Sagen Sie Madeleine, dass sie mich mal gernhaben kann!
Laut sagte ich: »Nein danke, Grace!«
»Gute Nacht, Miss Wagner!« So leise, wie sie gekommen war, zog Grace sich wieder zurück.
Ich wandte mich erneut der Dunkelheit vor meiner Balkonbrüstung zu.
Mit dem Handrücken wischte ich mir über die Nase. Die Tränen, die mir schon den ganzen Abend über die Kehle verstopft hatten, wollten und wollten nicht fließen. Ich kam mir vor wie ausgehöhlt und meine Lider fühlten sich an, als seien sie aus Sandpapier.
Wunderbar, Juliane!, schimpfte ich mit mir selbst. Jetzt fängst du schon genauso an wie David.
David!
Egal, woran ich dachte, am Ende landete ich wieder und wieder bei ihm. Ich lauschte auf den Schmerz in meiner Brust, versuchte, ihn zu analysieren. Er hatte ihr, ohne es zu wissen, das Herz herausgerissen. Diesen Satz hatte ich schon oft in Dads Schnulzen gelesen. Ich lachte bitter, weil es so albern und kitschig klang, aber irgendwie traf es den Sachverhalt verblüffend gut. Es war, als wäre dort, wo mein Herz gewesen war, plötzlich ein faustgroßes Loch.
»Scheiße, Juli!«, flüsterte ich ins Dunkel hinein. »Du bist echt eine dumme Nuss!«
Ich ging nach drinnen, starrte ein oder zwei Sekunden lang auf die Milch im Glas. Sie dampfte leicht und ich fror inzwischen trotz der dicken Decke ziemlich erbärmlich. Ich raffte die Decke unter meinem Kinn zusammen, nahm das Glas und trank es zu einem Drittel aus. Angewidert verzog ich das Gesicht. Die Milch war ziemlich stark mit Honig gesüßt und der Geschmack erinnerte mich an früher, als ich kleiner gewesen war und meine Mutter mir eine heiße Milch gemacht hatte, wenn ich krank oder traurig gewesen war. Es war genau dieser Gedanke, der meine Augen endlich zum Überlaufen brachte. Ziemlich lange stand ich einfach nur da und tat nichts, außer zu heulen.
Und dann erstarrte ich.
Der Wind hatte Fetzen von Worten herangeweht.
Angestrengt lauschte ich, aber für eine ganze Weile blieb es still. Wahrscheinlich hatte ich mich getäuscht, dachte ich und war drauf und dran, die Balkontür zu schließen. Aber da hörte ich es erneut.
Eine leise Frauenstimme. Ich hätte nicht sagen können, von woher sie kam, dazu zerriss der Wind sie zu stark. Aber ich verstand jetzt einzelne Worte. »I once had a true love and I loved her so well«, hörte ich, bevor der Wind wieder einsetzte. Wenn mir nicht ohnehin schon eiskalt gewesen wäre, hätte ich mit Sicherheit Gänsehaut bekommen, so verloren und unheimlich klang die leise Stimme.
Mein eigenes Blut rauschte in meinen Ohren und es dauerte einige Sekunden, bevor ich wieder etwas hören konnte.
»It will not be long 'til our wedding day«, wisperte die Stimme.
Mir wurde vor Grauen ganz elend zumute. Einen Moment lang konnte ich mich nicht rühren, doch dann riss ich mich zusammen. Mit einer energischen Geste schlug ich die Balkontür zu und verriegelte sie. Zitternd kroch ich danach ins Bett und zog mir die Decke über den Kopf.
D er nächste Morgen dämmerte mit Nebel herauf. Ich erwachte aus einem seltsamen Traum, in dem David und ich auf den Klippen von Gay Head getanzt hatten, während unter uns das Meer gefroren war. Kopfschüttelnd setzte ich mich hin und warf einen Blick aus dem Fenster, dessen Vorhänge ich in der Nacht vergessen hatte zuzuziehen.
Trübes, wattiges Grau lag über dem Rasen zwischen Haupt- und Gästehaus, wand sich um die Bäume und Büsche und wogte hin und her, als sei es lebendig. Hatte ich dieses unheimliche Gewisper gestern Nacht tatsächlich gehört? Jetzt, im grauen Licht des Morgen, kam es mir albern vor, das auch nur zu denken.
Ich seufzte und schwang die Beine aus dem Bett. Meine Zunge fühlte sich in meinem Mund dick und pelzig an. Um den ekeligen Geschmack zu vertreiben, trank ich einen Schluck von der kalten Milch, doch das machte es nur noch schlimmer. Angewidert verzog ich das Gesicht. Besser, ich ging mir die Zähne putzen.
Als ich aus dem Bad zurückkam, prasselten ein paar Regentropfen gegen die Fensterscheibe. Wunderbar! Genau das Wetter,
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