Herz aus Glas (German Edition)
irgendwo aus dem hinteren Teil des Hauses. »Sehen Sie sich ruhig schon mal um!«
Das Museum war ziemlich klein, aber es hatte etwas Gemütliches an sich. Ein Feuer brannte in einem Kamin mit einem schmiedeeisernen Gitter davor. Es war so warm hier drinnen, dass ich meine Jacke ausziehen musste. Ich legte sie mir über den Arm und tat dann, worum man mich gebeten hatte. Ich sah mich genauer um. Von der Decke baumelte ein Fischernetz, das mit Muscheln und Seesternen verziert war. Alte Schiffslampen hingen an den Wänden, zusammen mit Dutzenden von Bildern. Ich sah alte Ölgemälde von Schiffen, Pastellkreidezeichnungen des Gay-Head-Leuchtturms und vergilbte Fotos von Menschen aus den vergangenen beiden Jahrhunderten. In mehreren Vitrinen lagen dicke, ledergebundene Bücher und Briefe auf dickem, handgeschöpftem Papier und in altmodischer Schrift. Bei ihrem Anblick fiel mir plötzlich wieder der fliederfarbene Umschlag in Davids Hosentasche ein. Wie lange hatte ich nicht an das Ding gedacht? Nicht einmal, als Jason Davids Klavier zertrümmert hatte, hatte ich mehr als einen kurzen Gedanken an den Umschlag verschwendet, und das, obwohl Jason ganz deutlich die Herausgabe des Briefes gefordert hatte. Das alles wurde mir jedoch erst in diesem Moment bewusst, als ich in dem kleinen Museum stand und die altmodischen Briefe anstarrte.
Ich beschloss, mich auf etwas anderes zu konzentrieren.
Eine Ecke des Museums war dem Untergang der City of Columbus gewidmet. Ein Stück verrostetes und verbogenes Eisen hing an der Wand und daneben ein uralter Rettungsring mit dem Namen des Schiffes. In einer Vitrine darunter befanden sich Seekarten und weitere Briefe, außerdem mehrere Schmuckstücke, eine aufgequollene und vom Salzwasser völlig zerstörte Bibel und ein Stück Flechtwerk, das aussah wie ein halber Weidenkorb, dessen Sinn und Zweck sich mir aber nicht auf Anhieb erschloss. Bevor ich dazu kam, die Tafel neben der Vitrine zu lesen, wurde hinter mir ein Vorhang zur Seite gezogen und ein Mann betrat den Ausstellungsraum.
»Willkommen in Vineyard Historical Museum!«, sagte er freundlich und trocknete sich dabei die Hände an einem karierten Tuch ab. »Bitte entschuldigen Sie, ich war gerade beim Abwaschen.«
Er hatte ziemlich dunkle Haut und an den Schläfen ergraute Haare. Ein wenig erinnerte mich sein Aussehen an das von Grace und ich vermutete, dass er unter seinen Vorfahren ebenfalls Angehörige der Wampanoag hatte.
Er steckte das Tuch unter seinen Gürtel, dann reichte er mir die Hand. »Hallo, ich bin Adam.«
Das also war der Mann, von dem David nicht wollte, dass ich ihn besuchte. Ich nannte ihm meinen Namen.
»Freut mich sehr«, sagte er. »Möchten Sie eine Führung oder wollen Sie sich lieber allein umsehen?«
Ich deutete auf die Ecke mit den Überresten der City of Columbus . »Wenn ich ehrlich bin, interessiere ich mich hauptsächlich für den Untergang dieses Schiffes.«
Er folgte meinem Fingerzeig mit dem Blick und nickte lächelnd. »Da sind Sie bei mir an der richtigen Adresse. Ich will nicht unbescheiden sein, aber ich gelte auf der Insel als Fachmann für die Geschichte dieses Schiffes.« Er trat vor die Vitrine und wartete, bis ich meine Jacke über eine Stuhllehne gehängt und mich neben ihn gestellt hatte. Dann begann er, mir einen Vortrag zu halten.
»Die City of Columbus war ein 1878 in Dienst gestelltes Passagierschiff, das bis 1884 für die Beförderung von Passagieren, Post und Fracht zwischen Boston und Savannah eingesetzt wurde. Sie sank am 18. Januar 1884 vor der Insel, weil sie bei stürmischem Wetter auf einen Unterwasserfelsen aufgelaufen war. Hundertdrei Menschen ertranken oder erfroren im eiskalten Wasser, darunter alle Frauen und Kinder an Bord.« Adam wies auf die Gegenstände in der Vitrine. »Das sind einige Überreste, die man aus den Fluten geborgen hat. Bei dem korbähnlichen Ding handelt es sich übrigens um ein Stück von einem Reifrock.« Er machte ein betroffenes Gesicht. »Stellen Sie sich vor, wie die ausladenden Röcke der damaligen Zeit die Frauen nach unten gezogen haben müssen. Kein Wunder, dass keine von ihnen lebend entkommen konnte.«
»Ich bin erst ein paar Tage hier auf der Insel«, erklärte ich. »Aber ich habe jetzt schon mehrmals von einer Frau namens Madeleine gehört, die bei dem Unglück umgekommen sein soll.«
Zwischen Adams Augenbrauen erschien eine kleine Falte und ich fragte mich, ob er den leichten Grusel wahrgenommen hatte, der inzwischen immer
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