Herz aus Glas (German Edition)
das ich bei meiner ohnehin schon trüben Stimmung gebrauchen konnte.
Meine Gedanken wanderten zu David und zu den langen Minuten, die wir eng umschlungen in der Halle gestanden hatten.
Es hat nicht das Geringste zu bedeuten!, redete ich mir ein. Er hat den Halt gebraucht, den du ihm gegeben hast. Er will nichts von dir! Nichts, nichts, nichts!
»Überhaupt nichts!«, sagte ich laut und knirschte mit den Zähnen. Warum nur hoffen wir umso verzweifelter, je auswegloser die Situation ist?
Mein Blick fiel auf Rebecca, das ich vom Bett genommen und auf meinen Nachtschrank gelegt hatte. Lag in diesem Buch der Schlüssel zu Charlies Tod? Sachte strich ich mit den Fingerspitzen über die Abbildung des brennenden Herrenhauses.
Besser, du verschweigst David, dass du das Buch hast!, hatte Henry mir geraten.
Vermutlich hatte er recht. Auf der einen Seite drängte es mich, das Buch zu lesen, aber gleichzeitig hatte ich auch Angst davor. Vielleicht wollte ich gar nicht wissen, was es mir möglicherweise verraten würde. Energisch zerrte ich die Schublade meines Nachtschrankes auf und warf das Buch hinein. Dann schmetterte ich die Schublade wieder zu und begann, mich anzuziehen.
Als ich mein Appartement verließ, hörte ich nebenan meinen Vater vor sich hin murmeln. Wahrscheinlich hatte er schon wieder die ganze Nacht durchgearbeitet. Ich überlegte, zu ihm zu gehen und ihn um Rat zu fragen, aber gleich darauf verwarf ich diese Idee wieder. Er war in Liebesdingen extrem autistisch, was auch der Grund gewesen war, warum meine Mutter ihn verlassen hatte. Eigentlich erstaunlich, wenn man bedenkt, dass er über die große Liebe schrieb und damit auch nicht schlecht verdiente! In seinen Büchern schilderte er unerwiderte Gefühle und Liebeskummer ziemlich plastisch, aber mit ihm darüber sprechen zu wollen, endete eigentlich immer in einer mittleren Katastrophe.
Dad konnte mir also in dieser Situation nicht helfen. Ich öffnete die Tür des Gästehauses und sofort schlugen mir eiskalte Regentropfen ins Gesicht. Mit hochgezogenen Schultern rannte ich los. Nur aus dem Augenwinkel heraus glitt mein Blick zu Davids Fenster empor und kurz glaubte ich, ihn hinter der Scheibe stehen und zu mir hinabblicken zu sehen. Als ich allerdings genauer hinsah, war der Fensterrahmen leer.
Wahrscheinlich Wunschdenken, dachte ich und erreichte den Eingang des Herrenhauses. Mit einem Windstoß zusammen stolperte ich ins Warme.
Ich frühstückte wie immer, aber diesmal ohne dass jemand hereinkam und mir Gesellschaft leistete. Viel Appetit hatte ich nicht. Mein Magen fühlte sich sonderbar hohl an und ab und an verspürte ich einen Anflug von Übelkeit, dem ich jedoch keine weitere Beachtung schenkte. Als ich fertig war, kehrte ich in mein Appartement zurück und chattete Miley an.
»Bist du schon online?«
Ihre Antwort kam prompt. »Was glaubst du denn? Du hast ja lange nichts von dir hören lassen!«
Ich biss mir auf die Unterlippe. »War ziemlich viel los.«
»Erzähl!« Miley machte eine kleine Pause, dann fügte sie hinzu: »Ich verzeihe dir nur, wenn David der Grund für deine Sendepause war!«
Meine Lippe schmerzte und ich musste mich zwingen, die Zähne auseinanderzunehmen. »War er«, schrieb ich. »Aber leider anders, als du denkst.«
Und dann lieferte ich ihr eine Kurzzusammenfassung der Dinge, die seit unserem Skype-Telefonat vor zwei Tagen passiert waren. Ich schrieb ihr von der Poolparty und Davids Ausraster, von Jasons Wutausbruch, bei dem er das Klavier zertrümmert hatte, und von dem missglückten Empfang gestern Abend mit den Bestsellerautoren, auf dem David beinahe zusammengebrochen war.
»Willst du nicht lieber reden?«, war Mileys erste Reaktion.
Ich zögerte. All diese Dinge in die Tastatur zu hämmern, hatte ein bisschen Distanz zwischen mich und die Erlebnisse bringen können. Auf der einen Seite tat das einfach nur gut. Auf der anderen Seite wusste ich auch, dass ich sofort anfangen würde zu heulen, wenn ich Mileys mitfühlende Stimme hören würde. »Lieber nicht«, tippte ich. »Fühle mich gerade ein bisschen sonderbar.«
»Kein Wunder!!!!!«, schrieb sie und tippte fünf Ausrufezeichen dahinter. »Wenn man hört, was bei euch so abgeht …« Wieder machte sie eine kleine Pause. »Sind die alle krank im Kopf oder wie?«
Ich musste lachen. Es war ein unterdrücktes, etwas feuchtes Geräusch. Meine Augen brannten.
»Du hast nicht vor, nach Hause zu kommen, oder?«, fragte Miley.
Diesmal brauchte ich, bis ich
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