Herz dder Pflicht
befürchten und schon gar nicht von diesem jungen Lehrer. Ich wünschte, du würdest mich jetzt allein lassen. Ein alter Mann braucht seine Ruhe.“
William stürmte genauso wütend aus dem Raum, wie er ihn betreten hatte. Der alte Narr ist nicht mehr richtig im Kopf, dachte er. Er gehörte in ein Asyl, auch wenn die verdammten Ärzte nicht zugeben wollten, dass er senil war.
Es war schon spät, als Richard die Bibliothek verließ, um sich nach oben in sein Zimmer zu begeben. Er hatte die Halle halb durchquert, da ging die Tür zum Salon auf, und Pandora trat heraus.
Bei seinem Anblick blieb sie stehen. Während Richard noch überlegte, ob er sich lediglich verbeugen und weitergehen sollte, sprach sie ihn an. „Ein Wort mit Ihnen, Mr. Ritchie“, sagte sie und bedeutete ihm, einzutreten.
Richard folgte ihr in den Salon. „Heute Abend nach dem Dinner hat William Compton versucht, Sir John zu überzeugen, Sie auf der Stelle zu entlassen“, erklärte sie. „Dass Sir John sich weigerte, hat meinen Halbbruder umso mehr gegen Sie aufgebracht. Meine Tante Em und ich wollen Sie behalten. Sie tun für Jack so viel Gutes. Andererseits verlangt es die Fairness, Ihnen mitzuteilen, woran Sie sind. Vielleicht ziehen Sie es unter diesen Umständen vor, sich eine andere Stellung zu suchen, wo Sie nicht solchen Unannehmlichkeiten ausgesetzt sind wie hier.“
Beim letzten Satz füllten sich Pandoras Augen mit Tränen. Sie vermochte ihm kaum ins Gesicht zu blicken, das ihr schon so vertraut geworden war. Tatsache war, dass sie ihn nicht verlieren wollte, nicht nur Jack zuliebe, sondern um ihrer selbst willen.
Richard sah, dass sie weinte, und wurde von einem Gefühl überwältigt, das er nie zuvor für eine Frau empfunden hatte. War es möglich, dass diesem tapferen, schönen Geschöpf seine Zukunft tatsächlich derart am Herzen lag?
Er hatte nur noch den einen Wunsch, sie zu trösten. Ohne zu überlegen, dass sie die Herrin von Compton Place und er ein Angestellter war, trat er zu ihr, zog ein Taschentuch aus der Tasche – zum Glück ein unbenutztes, woran er erst später dachte –, legte ihr einen Arm um die Schultern und wischte ihr die Tränen ab. Dabei murmelte er: „Bitte weinen Sie nicht um mich, liebe Miss Compton.“
Für eine lange, glückliche Minute schmiegte Pandora sich an seine breite Brust und streichelte versunken seine Wange.
Dann trieb die Vernunft sie auseinander. Was um alles in der Welt tue ich da?, dachte Richard. Ich rechtfertige die schlechte Meinung, die der widerliche Bursche von mir hat.
Pandoras Gedanken bewegten sich in eine ähnliche Richtung. Was wäre, wenn William sie überrascht hätte? Er würde glauben, dass seine schmutzigen Andeutungen der Wahrheit entsprachen.
„Verzeihen Sie mir“, murmelte Richard, der spürte, dass sein Körper seine Erregung verriet.
„Es gibt nichts zu verzeihen“, flüsterte Pandora. „Sie haben mich zu trösten versucht, das ist doch nur natürlich.“
Wenn ich mich weiterhin so natürlich benommen hätte, wären wir womöglich auf dem Teppich gelandet, schoss es Richard durch den Kopf. Was wäre dann aus Miss Comptons Ehre geworden, von meiner Mission ganz zu schweigen?
Der letztere Gedanke bewirkte, dass sich sein Körper beruhigte. Am besten war es wohl, vorzugeben, dass nichts geschehen war.
Sie schlüpften in ihre Rollen zurück – Mr. Edward Ritchie, der niedrig geborene Hauslehrer sowie Miss Pandora Compton, seine Arbeitgeberin – und suchten ihre einsamen Betten auf, wo sie jeder für sich in einen unruhigen Schlaf fielen.
4. KAPITEL
„Mr. Ritchie und ich unternehmen einen Ausritt nach Baxter’s Bay, um dort nach Fossilien zu suchen“, verkündete Jack am nächsten Nachmittag. „Komm doch mit, Pandora. Du siehst ein bisschen mitgenommen aus.“
„So fühle ich mich auch, und dir ginge es genauso, Jack, wenn dir Großvater den ganzen Morgen im Nacken gesessen hätte.“ Er brauchte nicht zu wissen, dass Sir John sich die meiste Zeit über ihren Halbbruder beklagt hatte. „William will unbedingt den armen Mr. Ritchie wegschicken. Dabei ist der Mann unersetzlich. Wenn jemand weggeschickt werden sollte, dann William.“
Tante Em blickte von ihrer Stickarbeit hoch. „Pandora, warum begleitest du die beiden nicht? Die frische Luft wird dir guttun. Und wenn einer der Reitknechte dabei ist, kann William kein Theater veranstalten, weil du mit Mr. Ritchie zusammen bist. Bestell einen Picknickkorb – Essen schmeckt im Freien besonders
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